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Anmerkungen zu den „Auswertungsmaterialien zur Kampagne anlässlich des 60. Geburtstages der NATO in Straßburg/Kehl/Baden-Baden“

Der Sommer sollte u. a. zum Studium von Publikationen aus dem sogenannten „linken Bewegungsspektrum“ genutzt werden, insbesondere in Vorbereitung neuer Aktionen und fortzusetzender Strategiearbeit. Dabei wäre dem dritten Sozialforum in Deutschland ein besonderer Stellenwert beizumessen. Aber leider findet nun die internationale Arbeitskonferenz „No to war – No to NATO“ zeitgleich statt. Das stellt zum einen Fragen nach den Ursachen für das Termin-Missmanagement und fordert zum anderen auch scheinbar „untypische“ Akteure auf, für die erforderliche Debatte beim Forum im Wendland zu sorgen. Das ist als Ermutigung z. B. jener Autorinnen und Autoren des Heftes “Die Linke und die sozial-ökologische Frage. Klima, Kämpfe, Kopenhagen” gedacht, in deren Beiträgen „Sicherheitsprobleme“ thematisiert, strategische Überlegungen entwickelt und dabei überkommene politische „Ressortgrenzen“ überwunden werden. Wer gegen die NATO mobilisiert, „darf“ auch bei der Mobilisierung nach Kopenhagen 2009 – für eine Wende in der Klimapolitik – dabei sein oder beim Kampf gegen Armut, der 2010 neue Höhepunkte erfahren soll.

Die Herausgeber der „Auswertungsmaterialien“ – Reiner Braun, Peter Delis, Monty Schädel – wollen „einen Beitrag zu den verschiedenen Diskussionen um die Konsequenzen aus den Aktionen anlässlich des 60. Geburtstages der NATO leisten“ (S. 3). Sie fragen: „Was können und müssen wir daraus lernen, wie soll es weitergehen gegen das Kriegsbündnis NATO, gibt es und wenn ja, was sind zivile Alternativen zur NATO“? (S. 3). Dabei muss die „Gewaltfrage“ offensiv diskutiert werden, wovor sich insbesondere Reiner Braun und Monty Schädel keineswegs scheuen. Sie vermeiden die Suche nach einfachen Antworten auf komplizierte Fragen.

Die Verfasserin der „Anmerkungen“ (die bei Aktionen in Straßburg und Kehl dabei war) geht unüblich vor und dabei von zwei Reden aus: von der Regierungserklärung der Kanzlerin zum NATO-Gipfel vor dem Deutschen Bundestag am 26. März 2009 in Berlin und von der Einführung des Ex-NATO-Generalsekretärs für das Seminar zum Neuen Strategischen Konzept der NATO am diesjährigen 7. Juli. Das Seminar bildete den Start zur Fortschreibung jenes Konzeptes, das den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien mit eigenen machtpolitischen Regeln legitimierte und so eine neue „NATO-Normalität“ begründete.

Die Lektüre beider Reden kann helfen, die „Auswertungsdebatte“ strategisch auszurichten. Auf die „Auswertungsmaterialien“ wird vor allem im zweiten Teil der „Anmerkungen“ eingegangen.

Als kleine „Einstimmung“ werden zunächst jene sechs Punkte genannt, die Konsens all jener sind, die in der einen oder anderen Form in den „Auswertungsmaterialien“ zu Wort kommen, und von denen auch die Verfasserin ausgeht: (Diese Bemerkung soll möglichen Missverständnissen und/oder Unterstellungen vorbeugen.)

I. Zu den Reden von Merkel und de Hoop Scheffer

Sie gehören nicht zufällig zusammen und fokussieren auf die Klärung von Begriffen, des NATO-EU-Verhältnisses und auf die „Vernetzung“ der NATO-Strukturen mit sehr verschiedenen Akteuren. Sie machen deutlich, dass das Militärische, seine Eliten und Akteure zunehmend die Gesellschaftspolitik mit ihren vielfältigen Bereichen durchdringen und noch stärker durchdringen sollen. Für die weitere inhaltliche Arbeit werden in Klammern Fragen formuliert. Einige davon werden unter II c) aufgegriffen.

a) Merkels Regierungserklärung

1. Die Kanzlerin fordert, dass die NATO ihr „Bekenntnis zur Solidarität“ neu klärt. Dazu gehöre weiterhin der „Wesenskern der Allianz“ – wonach ein Angriff auf ein Mitglied ein Angriff auf das Bündnis ist. Aber: „Dieses Bekenntnis zur Solidarität erfordert heute neue Maßnahmen, andere Schritte als früher, zum Beispiel Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets“ (S. 4). Schließlich gäbe es eine „neue operative Realität“, die „ein neues Verständnis von Sicherheit und der Herstellung von Sicherheit“ verlange (S. 4).

[Frage an uns: Was verstehen wir unter „Solidarität“ und „Sicherheit“?]

2. Ausgehend vom „Beispiel Afghanistan“ schlussfolgert Merkel: „Der Erfolg der NATO wird immer mehr von ihrer Fähigkeit zur Vernetzung ihrer militärischen Instrumente mit vielfältigen Partnern abhängen, etwa mit anderen in politischen Krisenlösungen eingebundenen Organisationen. Die NATO muss dieses Verhältnis definieren. Sie … ist Teil einer vernetzten Sicherheit, zum Beispiel mit den Vereinten Nationen, mit der OSZE, mit der Europäischen Union oder mit der Afrikanischen Union genauso wie mit zivilen Kräften der Entwicklungspolitik oder mit Nichtregierungsorganisationen. Das … ist vergleichsweise revolutionär, sowohl auf der Seite derer, die militärische Aktionen durchführen, als auch auf der Seite derer, die im zivilen Bereich engagiert sind“ (S. 4-5).

[Frage an uns: Was heißt die Einsicht in die de facto bereits vielfach bestehende „Vernetzung“? Zugespitzt gefragt: müssen der Losung „NATO abschaffen!“, die Losungen „UN, OSZE, EU, AU, NGO abschaffen“ folgen? Wäre es sinnvoll, zu rufen: „NATO überwinden – NATO raus aus UN, OSZE, EU, AU, NGO!“? Und „Militär ist nicht Entwicklungshilfe! – Offizielle Entwicklungshilfe richtig ausweisen!“]

3. Merkel nennt Herausforderungen, die vor der EU und den USA gleichermaßen stehen: „Wir müssen heute an die Parallelität schwieriger, oft ganze Regionen destabilisierender Konflikte denken, an die Gefahren des transnationalen Terrorismus, an zunehmende Proliferationsrisiken, an die sicherheitspolitischen Auswirkungen von Umweltproblemen, an die Sicherung unserer Energieversorgung oder an Fragen des Zugangs zu begrenzten Ressourcen“ (S. 6). Weil dies aber auch Herausforderungen für jedes Land seien, müsse die NATO „alles daransetzen, dass möglichst viel Prävention auf der Welt betrieben wird, damit es nicht zu dem Punkt kommt, an dem nur noch militärische Mittel helfen können“ (S. 6). Daraus schlussfolgert sie: „Unsere zukünftige Sicherheit und unser Leben in Frieden und Freiheit werden … in ganz entscheidendem Maße von zweierlei abhängen: zum Ersten davon, wie eng wir Europäer unseren Zusammenhalt mit den Nordame-rikanern gestalten, und zum Zweiten davon, ob wir die großen Zukunftsthemen der globalen Wirtschaft, der Sicherheit und der Umwelt gemeinsam gestalten können. Vor diesem Hintergrund wird die Entscheidung, das strategische Konzept der NATO zu überarbeiten, die übergeordnete Aufgabe dieses NATO-Gipfels sein“ (S. 6)

[Frage an uns: Was sind die Ursachen für die von Merkel genannten „Gefahren“ und „Herausforderungen“? Was bedeutet ihre militärische Bearbeitung? Was ist „Prävention“ ausgehend von einem linken Sicherheitsverständnis? Welche Gefahren und Herausforderungen sehen wir und warum?]

4. Neben dem „Neuen Strategischen Konzept“ geht es Merkel „um vier weitere Dinge“: Erstens um Afghanistan als die „wichtigste aktuelle Bewährungsprobe für die NATO“ (S.7). Von dem Land dürfe künftig keine „terroristische Bedrohung“ mehr ausgehen und es solle fähig werden, für „seine Sicherheit“ zu sorgen. „Jetzt wissen wir, dass wir wirksame staatliche Strukturen aufbauen müssen“ (S. 7).

Das ist zweifellos ein Denken und Sprechen in Kolonialherren-Art! Und entsprechend setzt die erste Frau im Staate Bundesrepublik Deutschland fort: „Zum einen muss die NATO ihr Engagement noch stärker mit dem anderer Organisationen verschränken“ (S. 7). Und: „Zum anderen gilt es vor allen Dingen, die Eigenverantwortung der Afghanen weiter zu stärken. Das heißt für mich vor allem, dass wir die afghanische Führung noch stärker in die Pflicht nehmen, damit diese alles, aber wirklich auch alles unternimmt, um ihr Land gut und effizient zu regieren, Kriminalität zu bekämpfen und vor allem mit aller Kraft gegen den unsäglichen Drogenhandel anzugehen“ (S. 8).

[Frage an uns: Was sind verantwortungsvolle linke Vorschläge zur Lösung des „Afghanistan-Problems“?]

Zweitens geht es um die Beziehungen der NATO zu „unseren Partnern im Osten und insbesondere zu Russland“ (S. 9). Dabei bejubelt sie neue NATO-Mitglieder und Mitgliedschafts-Anwärter. Diese kreisen vielfach Russland ein, was dort Bedrohungsängste befördert. Dennoch bemerkt Merkel: „Das Fundament in der Sicherheitspolitik heißt immer wieder Vertrauen. Genau dieses Vertrauen muss gefestigt werden, auch und gerade mit Blick auf Russland. … Die Defizite liegen nicht in den Regeln, die wir für die Sicherheitspolitik in Europa haben … Wenn es ein Defizit gibt, dann ist es ein Defizit … bei den gelebten Regeln…“ (S. 11).

[Frage an uns: Was sind linke Alternativen für eine Friedens- und Sicherheitspolitik mit dem Blick auf Osteuropa und damit auf Russland?]

Drittens will Merkel „das Profil der NATO in den Bereichen Abrüstung und Rüstungskontrolle … stärken“ (S. 11). Neben schönen Worten sagt sie nach Verweis auf gewachsene Proliferationsrisiken: „Die Bundesregierung hat … die nukleare Teilhabe in der Allianz im Weißbuch verankert, weil wir wissen, dass sie uns Einfluss im Bündnis, auch in diesem höchstsensiblen Bereich, sichert“ (S.12). Im konventionellen Bereich solle der KSE-Prozess neu belebt und vorangetrieben werden (S. 12).

[Frage an uns: Sind unsere Forderungen zur Beseitigung der Atomwaffen und unsere Vorschläge zur Rüstungskontrolle und Abrüstung weiter zu präzisieren?]

Viertens hofft Merkel auf Fortschritte in der Zusammenarbeit zwischen NATO und Europäischer Union (S. 12). Aber noch immer sind EU und NATO mit dem ungelösten Konflikt zwischen Zypern und der Türkei konfrontiert. „Wir sollten entschlossen und gemeinsam darauf hinwirken, dass diese Kooperation von EU und NATO endlich Realität werden kann; sei es im Kosovo, sei es in anderen Missionen …“ (S.12).

[Frage an uns: Wir kann der Konflikt zwischen Zypern und der Türkei nachhaltig gelöst werden und was heißt das für linke Politik? Ist bei wachsender NATO und Frankreichs voller Rückkehr zu den NATO-Strukturen „No NATO!“ eine ausreichende Antwort für wirksame linke Politik hier und heute?]

Der Nahe Osten wird lediglich kurz erwähnt. [Frage an uns: Sind unsere aktuellen Positionen fortzuschreiben?]

b) Eröffnung des NATO-Strategieseminars von de Hoop Scheffler

Für den Ex-Generalsekretär der NATO ist klar, dass mit dem Neuen Strategischen Konzept insbesondere die Unterstützung bzw. zumindest Toleranz der NATO-Politik durch die Bevölkerungen gesichert werden muss. Das gelte schon wegen der erforderlichen Rüstungsbudgets und verlange Einbeziehung der öffentlichen Meinung. Er sieht insbesondere fünf Probleme (hier und im Folgenden ohne Seitenangeben, weil von der NATO-Website kopiert):

1. Es gelte klarzustellen, dass angesichts fortschreitender Globalisierung „heute die Herausforderung nicht ist, unser Territorium zu verteidigen, sondern unsere Bevölkerungen“, die sich auch außerhalb dieses Territoriums bewegen. „Unsere Herausforderung ist nicht, die Bevölkerungen sicher zu machen, sondern … sich sicher fühlen“ zu lassen, was komplizierter sei. Verbündete, die sich zu Hause sicher fühlen, seien leichter bereit, „ihre Streitkräfte für außerordentliche Maßnahmen zu transformieren und nach Afghanistan und anderswohin zu schicken“. Für Europa lägen die Sicherheitsbedrohungen vor allem außerhalb Europas. „Langfristig kann die NATO nicht mit zwei Typen von Mitgliedschaft funktionieren: jene, die sich sicher fühlen und willig zur Transformation seien, und jene, die sich weniger sicher fühlen und weniger willig seien.“

[Frage an uns: wann fühlen sich Menschen sicher und was heißt das für linke Politik?]

2. „ … das Neue Strategische Konzept muss … klarstellen, wo und wie die NATO ihre Armeen transformieren muss“. Die Ressourcen würden nicht effektiv genug eingesetzt. „Unsere Verteidigungsplanung und unsere Kapazitäten müssen besser mit den Lektionen verbunden werden, die wir bei unseren Operationen gelernt haben … .“ Hinzu käme, dass die Finanzkrise zunehmend auf die Haushalte drücke, was mehr statt weniger Gemeinsamkeit zwecks Ressourcenökonomie und notwendiger Investitionen verlange. Auch müsse eine bessere Balance zwischen Luft-, Land- und Meeresstreitkräften hergestellt werden. „Wir brauchen mehr Reform der NATO-Hauptquartiere und zugleich eine flexiblere und agilere Kommandostruktur mit besser ausbalanciertem … militärischem Establishment.“

[Frage an uns: Was sind konkrete Schritte, um kollektive Verteidigungsstrukturen zu stärken und zugleich die NATO angriffsunfähig zu machen? Was heißt das insbesondere für linke Europa- und EU-Politik?]

3. Dass die wachsenden Probleme der öffentlichen Finanzen den ohnehin großen Druck auf die Verteidigungshaushalte weiter erhöhen, sei ein zusätzliches Argument für mehr Prävention zur Konfliktvermeidung. Dies wiederum nötige zu besserer Vorausschau. „Also müssen wir in der Allianz mehr Intelligenz teilen. Wir brauchen mehr politische Diskussion über die vielen guten Analysen, die die zivilen und militärischen Experten in den NATO-Hauptquartieren regelmäßig produzieren, und mehr Aktion“ auf ihrer Basis.

[Frage an uns: Welchen Stellenwert hat für uns die Arbeit mit den zugänglichen Materialien, insbesondere mit Analysen?]

4. Man sei einerseits erfolgreich in der Entwicklung von Partnerschaft mit Staaten und Blöcken außerhalb der NATO. „Aber ich glaube, wir sind weit davon entfernt, den besten Wert aus diesen Partnerschaften zu ziehen. … Partner haben einen immanenten Wert … und wir brauchen mehr Einfallsreichtum in der Kooperation zu anderen Herausforderungen: Energiesicherheit, Proliferation, Internet, Terrorismus – um die augenscheinlichsten zu nennen. Hier muss wiederum das Neue Strategische Konzept die Partnerschaften zur nächsten Generation führen.“ Auch hofft man auf Fortschritte in Sachen Partnerschaft mit Russland. „Wir brauchen eine reife Partnerschaft. Zweifellos wird dies eins der delikatesten aber wichtigsten Debattenthemen für das Neue Strategische Konzept sein.“

[Frage an uns: Wie sehen wir „Sicherheitsinteressen“? Was heißt konkret: „europäisches Interesse“, „deutsches Interesse“, „russisches Sicherheitsinteresse“ und was bedeutet das für linke Politik?]

5. „Es ist ermutigend, dass die NATO heute in der Lage ist, mit einer Reihe anderer internationaler Organisationen zu interagieren, so mit der UN und ihrer Agenturen, mit der Afrikanischen Union, der Weltbank, der OECD, dem Roten Kreuz. … Aber seien wir zu uns selber ehrlich. Das umfassende Herangehen wird nicht funktionieren, wenn das NATO-EU-Verhältnis nicht funktioniert. Unsere Missionen, unsere geographischen Interessengebiete, unsere Kapazitäten – jedes unserer Probleme und unserer Defizite – überlappen einander zunehmend – von unseren Mitgliedschaften nicht zu reden. Unsere Definition der Herausforderungen und Mittel für Sicherheit sind zunehmend gemeinsam anzugehen.“ Hier seien bedeutsame Fortschritte auszumachen, wofür Kosovo und Afghanistan gute Beispiele seien. „Das Neue Strategische Konzept muss nicht nur … ein lebensfähiges, intellektuelles oder politisches Blueprint für die Entwicklung des NATO-EU-Verhältnisses produzieren, sondern auch helfen, den politischen Willen dazu zu generieren, es umzusetzen.“

[Entspricht unsere politische Praxis den Herausforderungen einer solidarischen Globalisierung von unten, einer lokal und regional gestützten globalen Bewegung für eine lebenswerte Welt für alle?]

II. Zu den „Auswertungsmaterialien

Vergegenwärtigt mensch sich die „Fragen an uns“ und studiert die „Auswertungsmaterialien“, so finden diese dort sich – oft eher indirekt – zum großen Teil wieder. Allerdings eben „oft eher indirekt“ und vielfach nicht. Die „Auswertungsmaterialien“ offenbaren zumindest drei Probleme: Unsere Verfasstheit als Linke in Aktion, wozu zweitens ein nicht ausreichend geklärtes Verhältnis zu „Gewalt aus den eigenen Reihen“ und drittens inhaltliche Schwächen bzw. Defizite in der Analyse und konzeptionellen Arbeit gehören. Die Orientierung, die Reiner Braun am Ende des Heftes gibt, kann zwar ausreichend für einen konkreten Arbeitszusammenhang, aber nicht ausreichend für die insgesamt Linken sein. „Wir haben drei Schwerpunkte: Zunächst arbeiten wir als internationales Koordinierungsgremium gegen NATO und Krieg weiter. 2010 gibt es die nächste große offizielle NATO-Konferenz in Portugal … Ich denke, dass wir auch im Herbst zu weiteren Afghanistan-Aktionen kommen müssen … Und wir müssen … Fragen, Schwächen und Probleme, die es bei vergangenen Aktionen gegeben hat, diskutieren“ (Reiner Braun, S. 114). Aber weiter brauchen wir die Debatte zu der Frage, wie mit den Kämpfen gegen Kriege, militärische Konflikte und Militarisierung zum einen auch deren Ursachen strukturell zurückgedrängt und letztendlich überwunden und somit zum anderen gesellschaftliche, ökologische globale Probleme demokratisch und nachhaltig gelöst werden können. Es geht insgesamt um die strukturelle Rückdrängung und Überwindung sozial und ökologisch zerstörerischer Prozesse, die letztendlich immer und zunehmend mit Militarisierung verquickt sind. Damit geht es um die Überwindung kapitalistischer Produktions- und Konsumtionsweisen, um den Erhalt und die Gesundung der natürlichen Lebensgrundlagen – um sozialökologischen Umbau, um die Realisierung einer Gesellschaft von individuell Freien, sozial Gleichen und solidarisch miteinander Lebenden.

Im Folgenden werden a) Momente aus den Beiträgen aufgeführt, die von strategischer Bedeutung sind, b) einige Bemerkungen zur Gewaltdiskussion gegeben und c) einige weiterführende Überlegungen angefügt.

a) Momente in den Beiträgen von strategischer Relevanz

1. Die Linken müssen lernen, Realitäten – sowohl in der Gesellschaft als auch der eigenen Verfasstheit – zu erkennen, ihre Arbeitsweise verändern und vor allem vermeiden, Konkurrenz unter Aktiven und mobilisierungswilligen Bürgerinnen und Bürgern zu schaffen: „Es reicht (heute) nicht (mehr) aus, sich als Sprecher der Friedensbewegung darzustellen, den Grund des Protestes zu formulieren und einige (halbherzige) Aufrufe zu entwickeln und dann darauf zu hoffen, dass … man am Ende eine Großdemo und einen Kongress hat und dafür dann … wenigstens von den Medien Zuspruch erhält.

Ebenso ist es nicht hilfreich, …, wenn globalisierungskritische/ antikapitalistische/ antimilitaristische / LINKE / linksradikale Strukturen glauben …, die Revolution beginnen zu können und an zwei aufeinander folgenden Wochenende zu Großprotesten aufrufen und mobilisieren zu können“ (Monty Schädel, S. 9).

2. Die NATO gehört zu den global Herrschenden, zu denen sich Regierende verhalten müssen. Aber Regieren ist vor allem verwalten, Herrschen heißt die Richtung gesellschaftlicher Entwicklung bestimmen. Der neue US-Präsident kann keine Herrschaftsstrukturen verändern, egal ob er es will oder nicht (siehe dazu Monty Schädel, S. 12).

3. „Eine weitere Informationskampagne zur NATO und ihrer Politik muss vorbereitet werden!“ (Monty Schädel, S. 13).

4. Selbst wenn konkrete Verwaltende und Ordnungskräfte sich als Demokratinnen und Demokraten sehen und auch entsprechend verhalten (wollen), was selbstverständlich durch uns aktiv ermutigt werden soll, dürfen keineswegs die Tendenzen anwachsender Repression und gerade ihre Durchdringung bzw. „Vernetzung“ mit NATO-Strukturen unterschätzt bzw. übersehen werden (siehe dazu Monty Schädel, S. 12).

5. Solidarität bedeutet immer, sich die Probleme der sozial Schwächsten und Schwächeren anzueignen. Das gilt auch für die eigenen Aktionen, vor allem mit Flüchtlingen im Demonstrationszug, die sich der Residenzpflicht widersetzen, und mit Menschen (z. B. mit Kinderwagen und im Rollstuhl), die am empfindlichsten getroffen werden, handeln „Sicherheitskräfte“ aggressiv-repressiv.

6. „Wie die Ergebnisse des NATO-Gipfels gezeigt haben, stehen die Zeichen auf die territoriale wie gouvernementale Ausweitung der Befugnisse und Aktivitäten der westlichen Militärallianz“ (Bericht 013, S. 87). Die Weltwirtschaftskrise, Ressourcenverknappung und Klimawandel sollen nicht „durch grundlegende gesellschaftliche und strukturelle Veränderungen zum Nutzen aller bewältigt werden, sondern durch die Fortschreibung der herrschenden Produktions- und Verfügungsverhältnisse zu Lasten der Mehrheit der Menschen. … ‚Vernetzte Sicherheit’ dechiffriert sich unter den Vorzeichen ‚asymmetischer Kriegsführung’ und ‚terroristischer Bedrohung’ als Militarisierung weiter ziviler und gesellschaftlicher Bereiche, so dass die immer schärfer gestellte Forderung nach sozialer Gerechtigkeit mit dem Zwangsregime der Mangelregulation beantwortet werden kann“ (S. 87).

7. Linke müssen Interessenwidersprüche unter den Herrschenden, Regierenden und verschiedenen Akteuren erkennen, deutlich machen, für die Milderung und Lösung gesellschaftlicher, ökologischer und globaler Probleme nutzen und damit eigene gesellschaftspolitische Positionen stärken.

„Die Benennung einiger zentraler Konfliktfelder, in denen europäische und US-Interessen gegeneinander stehen, zeigt: Im Zeitalter von Peak Oil rücken nicht nur die Öl und Gas produzierenden Länder ins Zentrum der Rivalitäten der großen Mächte, noch entscheidender scheint der Kampf um die Kontrolle der Pipelines …

Im Verhältnis zur NATO-Vormacht USA hat die EU die Wahl zwischen zwei Strategien: … mitschießen, um mitreden zu dürfen …. Die zweite wäre, eine eigene Kooperations-Strategie gerade auch mit Russland aufzubauen …“ (Werner Ruf, S. 29-30). Sie beginnt mit Widerstand gegen eine Militarisierung der EU. „Nicht nur im alten Westeuropa, mittel- bis längerfristig auch in den neu zu NATO und EU hinzu gekommenen Staaten könnte eine EU, die die Strukturen gegenseitiger kollektiver Sicherheit ausbaut und ihr Militärpotenzial in Richtung auf strukturelle Angriffsunfähigkeit transformiert, Akzeptanz finden“ Werner Ruf (S. 31).

b) zur „Gewaltfrage“ in der Linken

Dazu ist seit den Ereignissen zum G8-Gipfel von Heiligendamm viel geschrieben und noch mehr diskutiert wurden. Daher hier nur kurz und zugespitzt: „Ein“ oder „das“ Hauptproblem ist, dass eine sich als „links“ bezeichnende Minderheit andere linke Akteure und Verbündete als minderwertig ansieht und entsprechend mit ihnen umgeht. Das aber ist ein Gegenteil von links-sein und hat nichts mit anderen Anschauungen und Sichtweisen zu tun. Der Dissens ist, dass es zwar – wir vorne aufgeführt – Konsens darin gibt, dass man sich nichts diktieren lassen will, aber dass man dennoch anderen diktieren will, dass einige anderen etwas – und sogar für deren Leben und Gesundheit Gefährliches – aufzwingen wollen. Birgit Westermann bringt es im Streitgespräch auf den Punkt: „Nichts gegen Absprachen im Vorfeld. Aber letztlich kommt es doch auf die Situation an (S. 112). Und „in der Situation“ ist egal, ob die anderen gegen Gewalt sind oder nicht. Sie werden – wie Monty Schädel sagt – „in Geiselhaft“ genommen (S. 13). Das ist „Spaltung“ und nicht die Auseinandersetzung mit den „Geiselnehmer/innen“.

Der gut gemeinte Vorschlag von Ulrike Laubenthal und Hans-Peter Richter setzt ein Mindestmaß an Fairness voraus: „Vielleicht sollten wir die spektrenübergreifende Kooperation auf gut vorbereitete Aktionen zivilen Ungehorsams begrenzen – und bei allen Demonstrationen sagen: Dies hier ist die gewaltfreie Demo, Gewalt wird hier nicht toleriert, alle denen das zu eng ist, bleiben weg“ (Ulrike Laubenthal, Hans-Peter Richter, S. 95). Ihre „Überzeugung [ist], dass aktive Gewaltfreiheit der beste Weg zu politischer Veränderung ist“ und „aus Erfahrung und nach-denken gewachsen, nicht aus religiöser Überlieferung“ (Ulrike Laubenthal, Hans-Peter Richter, S. 93).

Dabei ist nicht so sehr das Taktische entscheidend – etwa Vorwände und Bilder für staatliche Provokateure und Repressionen der „Sicherheitskräfte“ zu liefern

oder Bürgerinnen und Bürger von der Teilnahme an Demonstrationen abzuhalten. Das Entscheidende sind einerseits die Selbstbestimmung, die Verantwortung für sich und andere, die Solidarität – also Werte, eigene Identität und Verhaltensweisen. Und andererseits der Gewinn an Autonomie und Handlungsfähigkeit. Beides macht die Widerständigen aus, die um gesellschaftspolitische Alternativen ringen statt einfach auf Attacken der Herrschenden zu reagieren. Diese Attacken sind auch und insbesondere Ergebnis und Katalysator von Militarisierungsprozessen.

c)  Einige weiterführende Überlegungen

1. Bei aller generellen Ablehnung der NATO-Politik und der prinzipiellen Verurteilung ihrer Verbrechen – siehe die Konsenspunkte – sollten zumindest zwei Tatsachen nicht übersehen werden, die gegen ein all zu einfaches „Nein zur NATO!“ und für alternative Losungen sprechen. Erstens: In Tschechien und Polen sowie in anderen MOE-Staaten haben sich zahlreiche Menschen, ja teilweise sogar Bevölkerungsmehrheiten, gegen die SDI-Pläne ausgesprochen, sich gegen diese zur Wehr gesetzt. Sie waren und sind aber oftmals Befürworter/innen der NATO-Mitgliedschaft ihrer Länder. Ein „Nein zur NATO“ schließt sie aus, obwohl sie bewiesen haben, NATO-Politik nicht einfach hinzunehmen und gegen eine Militarisierung ihres Lebens zu opponieren. „Mehr Sicherheit ist nicht mehr Militarisierung“ entspricht ihren Erfahrungen, „Militär raus aus Schulen und Universitäten!“ ihrem Denken. Wäre es nicht lohnenswert, hier anzuknüpfen?

Zweitens: Auf dem Balkan, insbesondere in den jugoslawischen Nachfolgestaaten, verstehen viele Linke – die keine NATO-Anhänger/innen sind – nach wie vor nicht, warum wir/die PDS sich 1999 in der „Jugoslawien-Frage“ so verhalten hat, wie wir uns (m. E. völlig richtig) verhalten haben. Diese Menschen waren hautnah mit Völkermord konfrontiert und sagen auch heute: Lieber alle jugoslawischen Nachfolgestaaten rein in die NATO (und sofort in die EU) als neue Konflikte und Kriege. Deren mögliche Ausgangspunkte und Gefahren werden auf Nachfrage erschreckend präzise beantwortet und mit Fakten belegt. Dabei gibt es keinen Dissens in der Einschätzung der Lage im Kosovo heute.

Das spricht m. E. zusätzlich für den Fokus auf „gegen Krieg und Militarisierung“ und die diskursive Entwicklung eines alternativen Sicherheitsverständnisses unter Einbeziehung interessierter gesellschaftskritischer Bürgerinnen und Bürger.

2. Im bundesweiten Aufruf „Nein zum Krieg! Nein zur NATO!“ heißt es: „Die NATO-Staaten verantworten rund 75% der weltweiten Rüstungsexporte und geben jährlich ca. 900 Mrd. Euro für Rüstung aus. Lediglich 10 Prozent davon würden ausreichen, um die Armut auf der Welt zu halbieren. Das würde in der Tat mehr ‚Sicherheit’ und ‚Humanität’ bedeuten“ (S. 132). Im diesem Sinne erklärte die Stuttgarter Versammlung vom 5. Oktober 2008: „Wir müssen die Militärausgaben reduzieren und die dadurch frei werdenden Ressourcen zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse einsetzen.“

Selbstverständlich können in Appellen und Aufrufen keine komplizierten Zusammenhänge dargelegt werden, aber es gilt ja gerade, Mobilisierungen und Aktionen mit der Entwicklung wirksamer linker Politik zu verbinden. Deshalb die Bemerkung, dass – selbst nicht in Konflikte und Kriege mündende – Rüstung und Militarisierung nicht „nur“ Gelder verschlingen, die insbesondere für den Kampf gegen die globale Armut gebraucht werden, sondern Ressourcenverknappung und -erschöpfung beschleunigen, soziale und natürliche Lebensbedingungen vernichten. Sie bedeuten Reproduktion zerstörerischer Akteure, Strukturen und Prozesse, d. h.

– Armut, soziale Ausgrenzung – darunter Arbeitslosigkeit – (wachsende) soziale und territoriale Spaltungen, Diskriminierung von Menschen nach ihrer sozialen und ethnischen Herkunft, nach ihrem Geburts- und Wohnort, ihrem Geschlecht und ihrer sexuellen Orientierung, nach ihrem Alter und ihrer körperlichen Verfasstheit

– Natur- und Kulturzerstörung, vor allem mit globale Erwärmung und Artensterben

– Entdemokratisierung, Überwachung und Repression, Verlust an demokratischen Gestaltungs- und politischen Steuerungsmöglichkeiten (insbesondere durch die Privatisierung öffentlicher Leistungen, die Verarmung von Kommunen und Regionen), Neofaschismus, religiöse Fundamentalismen und politische Extremismen.

Deren Folgen und Ursachen werden durch die Herrschenden in einer Art und Weise bearbeitet, die Militarisierung von Gesellschaft erfordert und befördert.

Da wäre es schon plausibel, z. B. zu sagen: „Weil wir der Vision einer friedlichen Welt anhängen, lehnen wir militärische Antworten auf globale und regionale Krisen ab – sie sind Teile der Probleme und nicht ihrer Lösung.“ Zu vereinfachend aber mutet die Aussage an: „Um unsere Vision einer friedlichen Welt zu erreichen, lehnen wir militärische Antworten auf globale und regionale Krisen ab – sie sind Teil des Problems und nicht der Lösung“ (S. 126, man achte u. a. auf die Verwendung von Singular und Plural).

Insgesamt aber geht es darum, sich dem Punkt 6 unter II a. intensiv zu zuwenden.

3. Wenn die Tendenz zur strukturellen gesellschaftlichen Militarisierung und damit zur militarisierten Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme ausgemacht wird, spricht das für eine neue Qualität von Bündnisarbeit – insbesondere in Sachen Frieden, aber auch in Sachen Demokratie, Armutsbekämpfung/soziale Sicherheit/soziale Kohäsion, Klima und Ökologie. (Letztendlich hängen sie alle wechselseitig zusammen.) Dafür ein Beispiel aus den Reihen jener, die an einer linken Klimabewegung arbeiten: “… [es] bedarf einer eigenständigen Klimabewegung – einerseits, um klimapolitische Auseinandersetzungen anzukurbeln, andererseits, um die diversen, meist lokal verankerten Kämpfe mit klimapolitischem Fokus zu bündeln und somit gesamtgesellschaftlich in Stellung zu bringen. Als prominente Bündelungspunkte könnten 2009 die Proteste gegen den NATO-Geburtstag in Strassburg und den Post-Kyoto-Klimagipfel in Kopenhagen fungieren”, meinte „Klimaaktivist“ (Olaf Bernau im erwähnten Heft, “Die Linke und die sozial-ökologische Frage …“, S. 49). Dass es zum ersten “Bündelungspunkt” nicht recht gekommen ist, spricht nicht gegen Bernaus fünf Punkte, die darauf zielen, verschiedene soziale und politische Kämpfe miteinander zu verbinden: 1. “Auseinandersetzungsfelder multiplizieren”, 2. “globale Antagonismen sichtbar machen”, 3. “soziale Folgen anprangern“, 4. “kritische Praxen neu justieren”, 5. “Crossover forcieren” (S. 49). Genau darum geht es, sollen die Akteure zerstörerischer Prozesse strukturell zurück- und verdrängt, die zerstörerischen Prozesse gestoppt und in konstruktive Entwicklungsprozesse umgeleitet werden. Sozialforen auf den verschiedenen Ebenen sind die besten Orte dafür, um jene Akteure zusammen und in die überregionale und internationale Kooperation zu bringen, die zusammen gehören. Der Ausgangspunkt sollten dabei menschliche Lebensbedingungen in ihrer Komplexität sein. Sie betreffen immer die körperliche und seelische Unversehrtheit der Individuen – und bereits damit die alles durchdringende Friedensfrage -, ihre individuelle Freiheit und mögliche Einflussnahme auf gesellschaftliche Entwicklungen, ihre Verhältnisse untereinander innerhalb und außerhalb ihres territorialen Lebensmittelpunktes – insbesondere ausgehend von ihrer Stellung in der Gesellschaft, im gesellschaftlichen Arbeits- und Reproduktionsprozess -, ihre Bildung, medizinische Betreuung und soziale Absicherung, die Verfasstheit ihrer natürlichen Lebensbedingungen. Die Menschen sind immer Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, die in Geschlechterverhältnissen und Lebensgemeinschaften leben. Jedes relevante gesellschaftliche Problem hat eine soziale, ökologische und machtpolitische Dimension. Dabei geht es letztendlich immer um ökonomische Interessen und die Frage, wer über die Organisation wirtschaftlicher Prozesse und die Aneignung ihrer Ergebnisse entscheidet, wer über die Produktions- und Reproduktionsressourcen verfügt.

4. Wie an mehreren Stellen hervorgehoben, müssen wir europäischer denken und handeln. Dazu hier ein kleines Diskussionsangebot, als „Kontrastvariante“ zu Frau Merkel und Herrn de Hoop Scheffler:

„Die Menschen in der Europäischen Union brauchen keine ‘Europäische Sicherheitsstrategie’, in der es drohend heißt: ‘Wir müssen eine Strategiekultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert.’ Sie sind nicht dieses ‚wir’. Im Gegenteil: Sie brauchen eine Politik der umfassenden und konsequent zivilen Prävention, eine wirkliche Sicherheitspolitik, eine Politik der gemeinsamen solidarischen Entwicklung. Wir opponieren rückhaltlos gegen ein Aufrüstungsgebot und gegen eine Politik, die auf die militärische Angriffsfähigkeit der Europäischen Union orientiert. Das aber macht die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik wesentlich aus. Dem dient die im Lissabonner Vertragstext konzipierte ‚Ständige Strukturierte Zusammenarbeit’.

Die Menschen in Europa brauchen einen gesamteuropäischen Wirtschafts- und Sozialraum, der heute und künftig nachhaltig menschliche Lebensbedingungen verbessert, der keinen Staat ausschließt und auf einem vielfältigen bi- und multilateralen Vertragssystem basiert. Das verlangt verstärkte Anstrengungen für den Ausbau der europäischen Zusammenarbeit im Rahmen des Europarats und der Organisation für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa (OSZE). Die Europäische Union muss sich hier engagieren und eine enge, diskriminierungsfreie Partnerschaft mit ihren europäischen Nachbarstaaten entwickeln. Sie muss darauf bedacht sein, ein friedliches Zusammenleben der jugoslawischen Nachfolgestaaten, ihrer Bürgerinnen und Bürger zu fördern. Das verlangt Verständnis für die Probleme und Respekt vor den Interessen aller, sofern es sich nicht um aggressive Nationalisten, Neofaschisten und andere politische Fundamentalisten handelt. Das gilt auch und insbesondere in der ‘Kosovo-Frage’, wo die EU 1999 am völkerrechtswidrigen Krieg und anschließend an der Verwaltung durch die Vereinten Nationen beteiligt war.     Es ist im Interesse der Bevölkerungsmehrheiten in allen jugoslawischen Nachfolgestaaten und in der Europäischen Union selbst, dass die EU wirksam hilft, auf dem Balkan eine intensive regionale Kooperation unter einander gleichgestellten Akteuren zu entwickeln.

Die EU muss den Interessen Russlands, Belarus’, der Ukraine und der Republik Moldau Rechnung tragen, sofern diese auf Frieden und gleichberechtigte internationale Zusammenarbeit gerichtet sind. Diese ist auch und insbesondere im Interesse jener, die in Russland leben und die aggressive Großmachtpolitik ihrer Eliten nicht wollen. Angebote an ‚Moskau’, zivil im gegenseitigen Interesse zu kooperieren, stärken die russische Friedensbewegung. Sie können auch jene in Russlands Nachbarstaaten ermutigen, die die Mächtigen ‚im Kreml’ fürchten – ihr Militär, erpresserischen ökonomischen Druck bzw. ein Stopp von Energielieferungen. Schließlich frieren und erfrieren immer zuerst die sozial Schwachen.

Ein generelles Problem besteht darin, dass die in der Europäischen Union Herrschenden immer zuerst von ihren Bedürfnissen in Sachen Grenzsicherung und Abschottung vor Migration, Gewährleistung ihrer Versorgung mit Ressourcen-, vor allem mit Energieressourcen, und Zutritt zu anderen Märkten ausgehen. Viel zu wenig interessiert sie, wie die EU anderen helfen kann, ihre politischen, sozialen und ökologischen Probleme zu mildern und nachhaltig zu lösen.

Die unbefriedigende Prioritätensetzung und die Instrumentalisierung der Menschenrechte betreffen auch und insbesondere die Beziehungen zu den rohstoffreichen zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisien und Tadschikistan, die an die Krisenregionen Iran und Afghanistan grenzen.

Mit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens rückten die südkaukasischen Staaten Armenien, Aserbaidschan und Georgien näher an die Grenzen der Europäischen Union. Auch hier geht es um die Förderung und den Transit von Energieressourcen in ethnisch und sozial heterogenen Konfliktregionen. Auch hier zeigt sich ein verkürztes Verständnis von Sicherheit und Prävention in den Nationalstaaten und in der EU: Im Interesse vermeintlicher Stabilität wird übersehen, wo Konflikte entstehen, weil Menschenrechte gering geschätzt werden.

Die Mittelmeeranrainerstaaten Algerien, Tunesien, Marokko, die palästinensische Autonomiebehörde, Israel, Libanon, Syrien und Jordanien sind die Partner der EU im Rahmen des Barcelona-Prozesses bzw. der Mittelmeerunion. Alle Initiativen, euro-mediterrane Kooperation zu befördern, belegen: Sicherheit und Entspannung verlangen Konfliktmanagement und Prävention, die nur gelingen, wird immer wieder geprüft, wessen Interessen verletzt werden, wer sich aus welchem Grund bedroht sieht, wer aus eigenem Stabilitätsinteresse toleriert, dass andere unterdrückt werden.

Auch eine EU-Aufnahme der Türkei wird vom ‚Sicherheitsinteresse’ aus diskutiert. Wir lehnen alle Versuche ab, einen türkischen EU-Beitritt mit Verweis auf so genannte religiöse Gründe auszuschließen. Die EU muss für alle europäischen Staaten offen sein, die die Kopenhagener Kriterien realisieren. Die Türkei kann hier zweifellos Fortschritte aufweisen, die wir würdigen. Allerdings dürfen Defizite, Rückstände und Rückschläge nicht übersehen oder gering geschätzt werden. Die türkischen Institutionen müssen allen in der Türkei lebenden Minderheiten ihre Menschen- und Bürgerrechte garantieren. Sie müssen den Kurdinnen und Kurden einen demokratischen und friedlichen Weg eröffnen, der ihnen das diskriminierungsfreie gleichgestellte Zusammenleben mit allen anderen Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht.                                                                                              So wie die Türkei einen konstruktiven Beitrag zur Lösung des Zypern-Problems leisten soll, soll es ebenfalls die Republik Zypern. Wie die Türkei unterlassen muss, was zukunftsfähiger Konfliktlösung im Nahen Osten hinderlich ist, so müssen das auch alle EU-Mitgliedsländer und die EU.                                                                  Die Türkei ist gegenwärtig nicht beitrittsfähig, die EU politisch, institutionell und wirtschaftlich nicht fähig, der Türkei den Beitritt zu ermöglichen. Das liegt auch daran, dass mehrere Mitgliedsländer eine EU-Mitgliedschaft der Türkei nicht wollen.

Der seit 1948 anhaltende blutige Konflikt zwischen Israel einerseits und den Palästinenserinnen und Palästinensern andererseits ist ein besonders tragisches und überlanges Kapitel der jüngeren Geschichte. Die Europäische Union soll ihr politisches und ökonomisches Gewicht dafür einsetzen, dass zwei entwicklungs- und zukunftsfähige Staaten entstehen, deren Bürgerinnen und Bürger insbesondere Wasser in erforderlicher Qualität und Menge erhalten und verbrauchen können.

Das politische und ökonomische Gewicht der EU ist ebenso gefordert, wenn es darum geht, den Bürgerinnen und Bürgern Afghanistans und des Irak zu einem friedlichen Leben in Würde zu verhelfen. Das betrifft vor allem die Möglichkeit, von sozialem Elend frei zu werden, zivilgesellschaftliche Strukturen auf- und ausbauen und an demokratischen Prozessen teilhaben zu können.                                                                          Eine EU, die ihrer Verantwortung gerecht wird, setzt auf den politischen und diplomatischen Dialog, auf finanzielle, wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit und auf die gezielte Unterstützung der demokratischen Zivilgesellschaft.

Verantwortungsvolle europäische Politik schließt auch die Pflege von  normalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und von den USA diskriminierten lateinamerikanischen Ländern wie Kuba ein.

Völkerverständigung, solidarische Hilfe und die Förderung der sozialen, kulturellen und politischen Menschenrechte sind die beste Friedenspolitik. Damit einher geht das aktive Engagement für die Erfüllung der Millennium Development Goals (UN-Entwicklungsziele, die insbesondere vorsehen, bis 2015 die schlimmste globale Armut, Hunger, Krankheiten wie Aids/HIV, Malaria und Tuberkulose sowie die Mütter- und Säuglingssterblichkeit unter den Ärmsten drastisch zu reduzieren).

Auch deshalb muss sich die Europäische Union aus ihrer unterwürfigen Haltung gegenüber der gewaltgestützten Supermachtpolitik der USA lösen – jedoch nicht, indem sie als Militärmacht konkurriert. Sondern indem sie den USA und den anderen weltpolitischen Machtzentren den globalen Wettbewerb um den wirksamsten Beitrag zum Frieden und zu gerechten Lösungen menschheitlicher Existenzfragen ansagt. In diesem Sinne kann die EU in der Tat zur dynamischsten Weltwirtschaftsregion mit dem höchsten sozial und ökologisch nachhaltigen Wirtschaftswachstum werden.

Gestützt auf die Positionen der US-amerikanischen  Friedensbewegung  fordern wir eine von der Imperialmacht USA unabhängige, auf multilateraler Zusammenarbeit beruhende Friedens- und Kooperationspolitik der EU, die

–     auf Frieden und internationale Zusammenarbeit gerichtet ist und die UNO demokratisieren und stärken will

–     Multilateralismus anstrebt und das Völkerecht achtet

–     der sozialen, ökologischen, entwicklungspolitischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit die Priorität gibt

–     eine auf Überwindung der Konfliktursachen ausgerichtete Konfliktprävention und -bearbeitung betreibt

–     die OSZE, ECE und die gesamteuropäischen Zusammenarbeit unterstützt und stärkt

–     Initiativen für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Konversion ergreift

–     staatliche Neutralität achtet

–     nachhaltig die unverzichtbare Forderung erhebt, das US-amerikanische KZ Guantanamo aufzulösen und das widerrechtlich besetzte Gebiet auf Kuba zu räumen

–     Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit, Solidarität, Menschenrechte, Säkularisierung und Gleichberechtigung der Geschlechter konsequent realisiert.

Unsere friedenspolitischen Forderungen sind klar und eindeutig: Sofortige Beendigung der Militäreinsätze von EU-Mitgliedsländern; unverzügliche Auflösung der Battle-Groups; ein Moratorium über die Europäische Sicherheitsstrategie und die Umwandlung der ‚Europäischen Verteidigungsagentur’ in eine Abrüstungsagentur; Schließung der USA-Militärbasen in den EU-Staaten, Verzicht auf das neue SDI und die weitere Ausdehnung der NATO; Unterbindung von Rüstungsexporten in Krisengebiete; Kürzung von Rüstungsausgaben, Konversion, Besteuerung von Rüstungsexporten; konsequente Schritte zur Demilitarisierung – insbesondere in der Entwicklungspolitik“ (AG Wirtschaftspolitik 2008, S. 70ff)

Die  „Auswertungsmaterialien zur Kampagne anlässlich des 60. Geburtstages der NATO in Straßburg/Kehl/Baden-Baden“, Herausgeber: Reiner Braun, Peter Delis, Monty Schädel, 2009, können über hr.braun@gmx.net [1] zum Unkostenbeitrag von 3,5o € bezogen werden.

Literatur:

AG Wirtschaftspolitik der LINKEN, Diskussionsangebot: Demokratisch und solidarisch Europa von LINKS verändern, in Beiträge zur Wirtschaftspolitik, 2008

“Die Linke und die sozial-ökologische Frage. Klima, Kämpfe, Kopenhagen”,  Sonderbeilage zu ak – Analyse & Kritik“, Sommer 2009

Launching NATO’s New Strategic Concept, Introductory remarks by NATO Secretary General, Jaap de Hoop Scheffer at the opening of the strategic concept seminar, www.nato.int/cps/en/natolive/news_56119.htm [2]

Regierungserklärung der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum NATO-Gipfel, vor dem Deutschen Bundestag am 26. März 2009 in Berlin, in: Bulletin der Bundesregierung, Nr. 39-1 vom 26. März 2009

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1 Kommentar Empfänger "Anmerkungen zu den „Auswertungsmaterialien zur Kampagne anlässlich des 60. Geburtstages der NATO in Straßburg/Kehl/Baden-Baden“"

#1 Kommentar von Erhard Zenkel am Juni 10, 2010 00000006 2:08 pm 127617893702Do, 10 Jun 2010 14:08:57 +0000

Hallo,
Der Artikel hat mir sehr gut gefallen.
Vielen Dank und Gruß 🙂