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Krisenmatrix

bailoutnationchartKrisen sind übervolle Zeiten. Sie erschüttern, überschreiten Grenzen und machen Angst. Neue Zusammenhänge müssen begriffen werden, Vertrautheiten zerfallen. Krisen erzwingen Entscheidungen – auch deshalb kommt unversehens überall Macht ins Spiel. Zwang, Widerspruch und auch Gewalt treten ganz neu auf die Bühne. Die Stärke gesellschaftlicher und politischer Akteure zeigt sich über Nacht: nicht die Parlamente, sondern die Exekutiven machen Krisenpolitik. Handlungen, Ideen und Visionen werden plötzlich dringend danach beurteilt, welche Zukunftsfähigkeit sie besitzen: führen sie aus der Krise? Welche Sicherung vor Krisen bieten sie? Welche Welt wird dann sein? Wohin wollen wir? Welche Pfade sollen wir einschlagen? Beim Aufgreifen und Beantworten dieser Fragen geht es um strategische Politik. Und da Krisen immer auf Neuverteilungen von Macht hinauslaufen, fügen die Akteure der Macht ganz privat und für sich diesen Fragen immer noch eine weitere hinzu: wie wird unsere Macht vor der Krise gesichert? Welcher Pfad der Krisenlösung schafft uns Machtgewinn, also eigene Politikfähigkeit und Zuwachs an von uns kontrollierten Ressourcen? Welche Welt wird uns gehören? Wie die Zeit seit 2007 zeigt: für Antworten in ihrem Sinne dementiert sie ihre eigene Theorie und Praxis im Zweifel bedenkenlos.Für viele Machtlose oder Entmachtete allerdings erschöpft sich der Charakter von Krisen im Verlust. Die Möglichkeiten aus Krisen, ihr Zwang zu Neuem und der Zukunftsdrang, den sie in Gang setzen, werden darüber oft vergessen. Stattdessen erschöpft die neue Not die Menschen: es geht immer mehr nur um das unmittelbar Notwendige. Der Blick auf die drückend und unsicher gewordene Gegenwart wird dann befestigt durch das scheinbar risikoarme Aufrufen der Krisenlösungen der Vergangenheit und deren Mythen. Richtig daran ist, dass es im Kapitalismus tiefe, strukturelle Krisen bei allen Zufälligkeiten nicht gibt ohne die Momente des systematischen, zwingenden oder sogar organischen, sie sich also in langen historischen Zeiträumen ausprägen. Deshalb sind mit einiger Sicherheit solche Krisenanalysen verfehlt, die das Ineinandergreifen von Strukturen und Prozessen mit womöglich krass unterschiedlicher Zeitdauer, Räumlichkeit und Kraft zugunsten der Wirksamkeit eines vor allem wirksamen Faktors hintanstellen.

Die Krise brach als sektorale Krise aus, als in der Dynamik einer auf den ersten Blick „normalen“ Konjunkturkrise die Spekulationsblase auf dem amerikanischen Immobilienmarkt platzte. Hinter dieser verbarg sich aber eine Überproduktions- und -akkumulationskrise, über die sich in den letzten drei Jahrzehnten ein finanzmarktgetriebener Kapitalismus aufgebaut hatte. Er war der Kern der Globalisierung einer neoliberalen Kapitalismusformation, die mit der Finanzkrise die schwerste Weltwirtschaftskrise seit 1929 hervorbrachte. Doch es geht um noch mehr als um die Verbindung einer Konjunktur- Finanz-, Überakkumulations- und Weltwirtschaftskrise: in der Matrix dieser Krisen spiegelt sich letztlich die tiefe Struktur- und Wachstumskrise eines kapitalistischen Entwicklungs- und Expansionsmodells wieder, das im letzten Viertel des vorletzten Jahrhunderts entstanden war. Zu dieser schon jahrhundertalten Kombination von Fossilismus, Konsumismus, Imperialismus und Militarismus kam in den 70ern die financialization hinzu. Sie bildeten die basale Expansionsmatrix unaufhörlicher Akkumulation von Kapital. Doch ihre große Kraft lässt nach. Die aktuelle Krise ist das bislang deutlichste Zeichen dafür, dass das lange Jahrhundert dieser eigentümlichen Expansionsmatrix kapitalistischer Akkumulation ausläuft.

Das 1989/1991 dramatisch kumulierte lange Ende der historischen Linken und ihrer Bändigungs-, Modifizierungs- und  Ausbruchsversuche aus dieser Matrix war das politische Vorzeichen des beginnenden Ausklangs dieser hohen Zeit des Kapitalismus. Die seitdem geleistete zwei Jahrzehnte Arbeit an einer neuen Linken bedeutet, dass sie dieses, sie durch und durch prägende lange Jahrhundert als die zentrale historische Basis ihres Selbstverständnisses, ihrer Theorie und Praxis in den Blick nimmt und sich verändert.

Unmittelbar aber zeichnet sich ein Krisenkapitalismus ab, in dem die Verknüpfung dieser Krisenprozesse verbunden ist mit absehbar äußerst heftigen sozialen und politischen Richtungskonflikten, mit denen die verschiedenen Krisenbrüche bearbeitet werden.

In Krisen werden also immer hergebrachte Grundentscheidungen und Pfadorientierungen hinterfragt: nützt die alte Strategie des Wachstums durch Export noch? Müssen industrielle Produktion und Dienstleistung, Privat und Öffentlich, Staatlich und Zivil, Zentral und Dezentral, Demokratie und Autoritarismus neu austariert werden? Stimmen die Grundmaximen wirtschafts-, industrie- und arbeitspolitischen Handelns noch? Wie lange noch wird es dauern, bis die nun schon jahrzehntelang sich vertiefende und ausweitende soziale Spaltung die Gesellschaften doch zu zerreißen beginnt? Warum nicht versuchen durch radikale Experimente und gesellschaftlicher Planung zukunftsfest und nachhaltig aus der Krise herauskommen? Ist überhaupt dieses Struktur- und Wachstumsmuster mitsamt den dazu gehörenden Politiken, also die schon jahrhundertalte basale Expansionsmatrix unaufhörlicher Akkumulation von Kapital noch haltbar, zumal wenn sie nicht nur zwingend (wie eben wieder) Innovation und Richtungsänderungen nur als Resultat der katastrophischen Brüche der Überakkumulation hervorbringen kann, sondern nunmehr es auch mit geschichtlich neuartigen Konsequenzen ihres eigenen Tuns zu tun bekommt – dass nämlich der Stoffwechsel mit der Natur gründlich und irreversibel außer Tritt zu geraten beginnt? Die Erschöpfung diese Matrix wird rapide unausweichlich. Sie kann einen kapitalistischen Stoffwechsel mit der Natur als Grundlage kapitalistischer Akkumulation (und Überakkumulation) nicht mehr realistisch sichern. Um die Zerstörung der stofflichen, sozialen und ökonomischen Strukturen und Verfahren der alten Expansionsmatrix erfinden, vorantreiben und ersetzen zu können, muss das neoliberaler Framework eines finanzmarktdominierten Kapitalismus und seiner Ökonomie der Enteignung verlassen werden. Das ist für die Linke die Kernfrage der nächsten Jahre. Aus den unterschiedlichen Zeit- und Tiefendimensionen der aktuellen Krisenmatrix und deren Stabilität ergibt sich, dass ihre Politik ebenso differenziert, also radikal wie realistisch, pragmatisch wie grundsätzlich sein muss.

Aktuell aber wird die gegenwärtige Krise von den Lösungsvorschlägen und –praxen, Zielsetzungen und Verfahren der alten Macht geprägt, auch wenn die neoliberale Konsensproduktion durch soft power massiv erschüttert und das Gehäuse der neoliberalen Leitideen zerbrochen ist. Es ist also weiter die Zeit der Herrschenden, nicht der Beherrschten. Freilich bringt diese ihre ganz eigenen, eigentümlichen Schwebe- und Übergangszustände mit sich: starke Momente der Destabilisierung und des Zerfalls der bisherigen Bündnisstruktur und der damit verknüpften Machtressourcen sind offensichtlich  – doch diese Zerfallsmomente des herrschenden neoliberalen Blocks, der die herrschenden Klassen und ihre regierenden politischen Eliten bestimmt, ist nicht die Haupttendenz. Diese ist: die Verschärfung der Konkurrenz im Block, starke Polarisierungen mit Elementen des Ausbruchs, Bröckeln des Zentrums, Stärkung autoritärer Politiken, Neuarrangements von Allianzen, Hinzukommen neuer Akteure, Öffnungen der Politik. Solche Momente des Zerfalls sind also Ursachen wie  Begleiterscheinungen von Rearrangements und Machtstabilisierungen. Der ganze politische Raum ändert sich und wird umgewälzt.

Und übrigens: die Turbulenzen in den herrschenden Kreisen haben oft auch recht handfeste materielle Hintergründe: die Anzahl der Ultra-High Net Worth Individuals (Menschen mit einem Mindestvermögen von 30 Million $) und ihr Vermögen sind 2007/8 um ein Viertel geschrumpft – drei Jahre robuste Vergrößerung globaler Ungleichheit sind dahin, die Zahl der vermögenden Privatpersonen und der Wert ihres Vermögens sind doch tatsächlich unter die Marken von 2005 gefallen! Auch bei den Superreichen ist das Elend der Krise angekommen.

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