Am 22.06.09 diskutierten in Paris GewerkschafterInnen, KommunalpolitikerInnen und WissenschaftlerInnen die Frage, ob wirtschaftsdemokratische Konzepte als strategische Alternative gegen die Krisenpolitik der Herrschenden aufgebaut werden können. Organisiert wurde die Veranstaltung Organisiert von espaces Marx in Kooperation mit der Region Ile de France, der Zeitschrift Les Mondes du Travail und der Zeitschrift transform!. Die TeilnehmerInnen kamen natürlich vor allem aus Frankreich, aber auch aus Griechenland, Spanien und Deutschland.
Besonders interessant war, dass konzeptionell von einem breiten Verständnis von Wirtschaftsdemokratie ausgegangen wurde. Das erklärt auch den Kreis der VeranstalterInnen und TeilnehmerInnen. Das Zusammenwirken von Gewerkschaften, Belegschaften und den BürgerInnen sowie Verwaltungen in den Regionen war ein durchgängiges Thema der Diskussion. Diese war in vier Blöcken vorgesehen. Im ersten Block wurden der Mangel an Demokratie im Unternehmen und die Rolle der Beschäftigten bezüglich der Unternehmenspolitik untersucht. Im zweiten Teil ging es um die Frage, was die Macht der Öffentlichkeit tun sollte, um Wirtschaftsdemokratie zu unterstützen. Die dritte Runde der Diskussion befasste sich mit der Rolle der sozialen bzw. solidarischen Ökonomie in diesem Kontext. In dem abschließenden vierten Block diskutierten Gäste aus Frankreich, Griechenland, Spanien und Deutschland die EU-Dimension der Frage.
Wie bereits erwähnt war ein breites Verständnis von Wirtschaftsdemokratie Grundlage der Debatte. Der Bogen spannte sich von den Arbeitsbedingungen, über die Beteiligung der Belegschaften an Unternehmensentscheidungen, die Schaffung von Bündnissen zwischen Belegschaften und EinwohnerInnen, die Folgen der aktuellen Regionalpolitik für Unternehmen und Regionen bis hin zu den Fragen nach tragfähigen Alternativen. Unter den TeilnehmerInnen war eine ganze Reihe von GewerkschaftsaktivistInnen aus dem AXA-Konzern, die in ihrer Person die bereits angemerkte Verbindung von gewerkschaftlicher und Kommunal- bzw. Regionalpolitik repräsentieren.
Folgende Gesichtspunkte sind für die Bewertung von Potenzialen von Forderungen nach einer tiefgreifenden Demokratisierung von Wirtschaft herausgearbeitet worden.
Erstens hat sich im Zuge der Wirtschaftskrise das Konfliktpotenzial in den Unternehmen, in den Beiträgen wurde vor allem auf Finanzunternehmen eingegangen, angestaut. Arbeitsintensität, Stress, ein in sich widersprüchlicher Führungsstil und die Missachtung der Erfahrungen der Beschäftigten führen unter Krisenbedingungen zu einer Legitimationskrise. Dies gilt auch im Management, wo das Bild der unerschöpflichen Möglichkeiten auf globalisierten Märkten unendlich Geld verdienen zu können, zerbricht. Das Management versteht die Widersprüchlichkeit der Globalisierung und die Problematik der Wirtschaftskrise nicht, sie verstehen den Markt als das „Natürliche“. Das schlägt sich in ständigen Strukturänderungen und damit verbundener Unbeständigkeit nieder. Diese Unfähigkeit, Realität zu verstehen, exportieren viele Manager auf den Staat, denn der Markt (mit dem sie sich identifizieren) kann als das Natürliche keine Fehler machen.
Viele Beschäftigte erleben diesen Widerspruch in ihrer täglichen Arbeit, weil sie mit den NutzerInnen der Leistungen der Unternehmen ja in unmittelbarem Kontakt stehen. In den Unternehmen, so ein Diskussionsteilnehmer, tobe ein ideologischer Kampf. Die Arbeit werde immer weiter intensiviert, nach außen gäbe man sich mit CSR-Polemik sozial. Diese Intensivierung der Arbeit sei neben der Individualisierung der Arbeitsverhältnisse das entscheidende Problem.
Da das Management unfähig und unwillig ist, grundsätzliche Änderungen einzuleiten, muss auch aus der Sicht der Beschäftigten die Unternehmensmitbestimmung mit einer verstärkten Präsenz der KonsumentInnen in Entscheidungsprozess verbunden sein. Wichtig sei dabei aber auch folgendes: Individuen müssen sich als in der Gesellschaft lebend begreifen, davon ausgehend ihre Leiden am Arbeitsplatz bewerten und die Komplexität des Lebens und ihres politischen Daseins verstehen.
Dies sei umso mehr berechtigt, als dass die Finanzunternehmen ja zu einem großen Teil mit öffentlichen Geldern zu tun haben – genauer mit ihm Geschäfte machen.
Zweitens wurde betont, dass die Trennung von Arbeit und Leben eigentlich gar nicht besteht. Menschen leben in einer Kommune, gehen dort oder an einem anderen Ort zur Arbeit – sie sind also immer von Entscheidungen der Unternehmen wie auch von Entscheidungen etwa der Kommunalparlamente gleichermaßen betroffen. Aus diesem Gesichtspunkt ist die starre Trennung von Gewerkschafts- und Kommunalpolitik falsch. Demokratie sei eben eine Machtfrage und die Zusammenführung von betrieblichen und kommunalen Kämpfen sei angesichts der tiefgehenden Konsequenzen von Unternehmensentscheidungen für die Regionen gerechtfertigt. Das könnte in gemeinsamen Räten von EinwohnerInnen, Belegschaften und KonsumentInnen (die ja auch an anderen Orten leben können) fixiert werden. Es ginge darum, virtuelle und physische Räume, wo Menschen sich austauschen können und neue Konzepte entstehen, zu schaffen. Man muss Konzepte entwickeln können und muss auch mit neuen Formen experimentieren können, um zu einer realen Demokratisierung zu kommen. Es geht also um eine gemeinsamen Suchprozess.
Zu solchen Formen könnten Sozialfonds oder Pläne zur sozialen Entwicklung gehören. Dadurch sollen Unternehmen in ihrem Handeln gebunden werden und den Interessen von Beschäftigten, EinwohnerInnen und KonsumentInnen verpflichtet werden. Anhand der Nationalen Projekte in Frankreich wurde deutlich gemacht, dass staatliche Intervention alleine nicht reicht. In den Regionen, die in diese Projekt eingebunden sind, haben die Kommunen praktisch keine Möglichkeit, Entwicklungsrichtungen tatsächlich mitzubestimmen – sie dürfen lediglich bezahlen. Zentral ist also die Möglichkeit gemeinsamer Entscheidungen über die Investitionspolitik der Unternehmen wie auch des Staates. Durch das Zusammenführen von Forschungseinrichtungen, Unternehmen und Regionen auf demokratischer Grundlage könnte so der Investitionspolitik eine neue Richtung gegeben werden, jenseits des Verständnisses von Innovationen als Moment der Standortkonkurrenz. Notwendig sei also ein anderes Verständnis von Regional- und Stadtentwicklungspolitik. Auf diesem Wege sei auch eine Verbindung von Demokratie und sozialökologischem Umbau möglich. Dabei ginge es tatsächlich nicht nur um Konsultationen, sondern um das Mit-Entscheiden. Es wurde angeregt, in diesem Zusammenhang auch die Frage nach dem Stellenwert von Planung, auch Volkswirtschaftsplanung, neu zu diskutieren. Nachdenken über Ressourcen, Ziele usw. – das sei Demokratie. Planung und Demokratie gehörten zusammen.
Drittens wurde betont, dass Wirtschaftsdemokratie in dem hier betrachteten breiten Sinne mehr als formale Öffnung von Entscheidungsprozessen sein müsse. Die Demokratisierung der Wirtschaft, so eine Position, müsse mit der Demokratisierung des Staates beginnen. Diese Demokratisierung hat viele Dimensionen. Um verantwortlich entscheiden zu können, brauchen die betrieblichen und regionalen Gremien Informationen auch aus anderen Unternehmen und Regionen. Viele Fragen, wie etwa die der Folgen bestimmter Entscheidungen für die Umwelt, seien aus der begrenzten Sicht eines Unternehmens oder einer Region gar nicht zu entscheiden. Es ginge darum, Netzwerke zu schaffen, in denen solche Fragen diskutiert werden. In diesem Zusammenhang wurde auch auf die destruktive Rolle der Konkurrenz verwiesen, die auf der Ebene der Unternehmen wie auch auf der der Regionen und Kommunen gleichermaßen demokratische wie auch solidarische Ansätze untergräbt.
Viertens sei der öffentliche Sektor selber ein enormes ökonomisches Potenzial, in dem es mit der Demokratie der dieses Potenzial betreffenden Entscheidungen nicht immer gut aussehe. Es wurde z.B. auf das öffentliche Beschaffungswesen verwiesen. Mit den Initiativen zur Demokratisierung von Haushaltsentscheidungen (Bürgerhaushalt) und Initiativen zur Herstellung maximaler Transparenz in der Haushalts- und sonstigen Politik (Budgetanalyse und Sozialberichterstattung) sind in den letzten 10 Jahren wirkungsvolle Instrumente basisdemokratischer Intervention entstanden, die es jetzt durch ihre Überführung in eine öffentliche Diskussion zu Wegen der Krisenüberwindung fruchtbar gemacht werden könnten. Dabei könnten sich die Linken eigentlich auf eine oft unterschätzte Ressource stützen: Im Zuge der technologischen Umwälzungen der letzten drei Jahrzehnte hat sich eine neue Qualität von Arbeitskraft entwickelt, die in der Balance von Individualität und Kollektivität leben muss. Die Nutzung dieser Kompetenz werde bisher noch unterschätzt, auch in den Gewerkschaften.
Fünftens ging es um das Verhältnis von Staat, Verstaatlichung und Sozialisierung. Das Handeln des Staates ist unerlässlich für die Überwindung der Krise – damit ist die Auseinandersetzung um die Richtungen der Staatsintervention zentral. Wie, so die Frage, kann man erreichen, dass nicht nur Geld an die Unternehmen fließt, sondern auch ein Transfer der positiven Effekte an die Gesellschaft zurück erzwungen wird? Es existieren z.B. hinreichende Potenziale für die Etablierung öffentlichen an Stelle staatlichen Eigentums, also Sozialisierung statt Verstaatlichung. Es fehlt allerdings an überzeugenden Konzepten zur Etablierung solcher Modelle. Die Entwicklung von Strukturen solidarischer und sozialer Ökonomie, die Etablierung von Genossenschaften und die Schaffung von Räten zu verschiedenen Fragen müssen daher neu diskutiert werden. Es gilt darüber nachzudenken, wie bestehende genossenschaftliche Strukturen zu demokratisieren sind und wie das Öffentliche am öffentlichen Eigentum gestärkt werden kann. So wurde vorgeschlagen, die öffentlichen und genossenschaftlichen Banken zu fusionieren und so eine ökonomische Basis für die Veränderung politischer Machtverhältnisse zu schaffen. Wichtig sei es allerdings, so ein anderer Beitrag, dabei die alten kommunistischen Fehler zu vermeiden. Dabei ging es offensichtlich um den Avantgardeanspruch. Dem stehe als neue Qualität das deliberative Element entgegen, wie es gerade in den lateinamerikanischen Diskussionen betont werde. Ein Maßstab der Verwirklichung direkter Demokratie sei die Unabhängigkeit des Entscheidungsprozesses von Staat, Verwaltung, Parteien und Parlamenten.
Die Beratung in Paris griff also eine Vielzahl von Aspekten auf, die es wert wären, jeweils für sich genommen vertieft zu werden. Bemerkenswert war vor allem, dass der Aspekt der Selbstorganisation und der Kompetenz der Beschäftigten bzw. BürgerInnen ein großer Stellenwert beigemessen wurde. Das Herangehen an die Frage der Wirtschaftsdemokratie war so vor allem offensiv, weil sie Wirtschaft als Teil der Reproduktion von Gesellschaft insgesamt begreift. In dem hier diskutierten Sinne schafft sie so Ansatzpunkte für breitere Bündnisse und kämpferische Solidarisierung. Sie schafft Raum für Veränderung und Selbstveränderung. Veränderung ist aber der Inhalt jeder Krise. Mit wirtschaftsdemokratischen Orientierungen der hier skizzierten Art werden also entscheidende Zugänge zu anderen Wegen der Krisenüberwindung geschaffen. Die Phrase „Krise als Chance“ erhält so einen produktiven und progressiven Sinn.
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