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Radikale Transformation

Mit dem Begriff versucht Nicos Poulantzas seine staatstheoretischen Erkenntnisse für emanzipatorisches Handeln nutzbar zu machen. Im Zentrum steht dabei seine Kritik an den staatszentrierten Freiheitsvorstellungen sowohl der Sozialdemokratie als auch des Stalinismus. Bei allen Differenzen »zeigen beide eine grundlegende Verwandtschaft, nämlich den Etatismus und das tiefe Misstrauen gegenüber der Initiative der Volksmassen, also den Argwohn gegenüber demokratischen Forderungen« (Poulantzas). Die Ursache hierfür liegt in einem ähnlichen Staatsverständnis. Der Staat wird entweder als Instrument begriffen und/oder als Subjekt missverstanden und nicht als komplexes, mit inneren Widersprüchen versehenes soziales Verhältnis. Für beide Bewegungen stand der Staat im Zentrum ihrer Freiheitskonzepte. Die stalinistische Variante führte zum Despotismus, die sozialdemokratische zu einem Etatismus der Experten.
»Das Grundproblem eines demokratischen Wegs zum Sozialismus und eines demokratischen Sozialismus ist die Frage, wie man eine radikale Transformation des Staates in Gang setzen kann, wenn man die Ausweitung und Vertiefung der Freiheiten und der Institutionen der repräsentativen Demokratie (die auch eine Errungenschaft der Volksmassen waren) mit der Entfaltung von Formen der direkten Demokratie und von Selbstverwaltungszentren verbindet?« (Poulantzas) Der Begriff der radikalen Transformation wurde von Poulantzas entwickelt, um zu verdeutlichen, dass es im Übergang zum demokratischen Sozialismus nicht um reformistische Eingriffe des Staates in die Gesellschaft geht, sondern umgekehrt um eine radikale Transformation der Staatsapparate durch die gesellschaftlichen Kämpfe, die immer, sowohl innerlich als auch äußerlich, mit dem Staat verbunden sind.

In einem demokratischen Weg zum Sozialismus gehe es aber darum, »die innerhalb der staatlichen Netzwerke verstreuten Widerstandszentren der Massen zu entfalten, verstärken, koordinieren und zu leiten, sowie neue Zentren zu schaffen und zu entwickeln. Dadurch können diese auf dem strategischen Terrain des Staates zu effektiven Zentren der realen Macht« werden. Macht ist keine quantifizierbare Substanz, die man dem Staat entreißen könnte. Vielmehr besteht die Macht »aus einer Serie von Verhältnissen zwischen den gesellschaftlichen Klassen, die sich par excellence im Staat konzentrieren, der die Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen konstituiert«. Poulantzas’ Konzept der radikalen Transformation müsste hier, um dem Klassenreduktionismus zu entkommen, um andere gesellschaftliche Kämpfe, etwa gegen patriarchale und rassistische Unterdrückungsmechanismen, sowie um gesellschaftliche Naturverhältnisse erweitert werden.

Die Strategien müssen sich immer den bestimmten Situationen der verschiedenen Länder anpassen. Es lassen sich aber gleichwohl aus der Vergangenheit Lehren ziehen, die jeden Übergang zum demokratischen Sozialismus betreffen. Die zentrale Erkenntnis aus den gescheiterten Versuchen, eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen, besteht zweifellos darin, dass es den »Sozialismus … nur als demokratischen Sozialismus« geben wird (Poulantzas). Nur die Verbindung der Kämpfe um Basisdemokratie mit einer radikalen Transformation der repräsentativen Demokratie kann einen autoritären Etatismus vermeiden. Im demokratischen Weg zum Sozialismus muss ein politisch-ideologischer Pluralismus gewährleistet sein und es muss zu einer Ausweitung der politischen Freiheiten (einschließlich der des Gegners) kommen. Die hieraus resultierende Kontinuität der Institutionen der repräsentativen Demokratie ist kein bedauerliches Überbleibsel, »sondern eine notwendige Bedingung des demokratischen Sozialismus<<. Die radikale Transformation der Staatsapparate kann keine etatistische sein, vielmehr muss sie zu tief greifenden Brüchen führen, die nicht bei einer einfachen Demokratisierung und Dezentralisierung stehen bleiben. Ziel ist eine grundsätzliche Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, sodass sich die Trennung von Ökonomie und Staat nicht in immer neuen Varianten reproduziert. Die Frage, wie die Internationalisierung und die Transnationalisierung von Staaten und Herrschaftsverhältnissen einen Übergang zum demokratischen Sozialismus verändert, wird von zukünftigen Bewegungen zu beantworten sein. Dabei werden in jedem Fall globale Interdependenzen und staatsapparative Institutionen mit nahezu globaler Reichweite stärker zu berücksichtigen sein.

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