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Eine Konferenz im vietnamesischen Hochland widmete sich der Frage, welche Bedeutung Marx heute für die Entwicklung Vietnams haben könnte. Die Vietnamesische Akademie für Gesellschaftswissenschaften Hanoi hatte dazu mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung WissenschaftlerInnen aus Vietnam, Laos, China, Südkorea, Japan und Deutschland eingeladen.

Interessant war erst einmal der Fakt dieser Konferenz selbst. Eine Diskussion des Marxschen Erbes hier in der Region wird in Westeuropa eher nicht vermutet werden. Die Region wird wohl eher als Rohstoffressource und Hort der Billigkonkurrenz wahrgenommen, in der die Ideen des Neoliberalismus in grober Form ihren Triumph feiern. Das ist sicher nicht völlig falsch. Auch auf dieser Konferenz waren Stimmen zu hören, die das neoliberale Weltbild vom hart arbeitenden Unternehmer, der doch eben seiner harten Arbeit wegen Reichtum verdient habe, vertraten. Alle müßten nur hart genug arbeiten, so würden alle reich werden – so die implizite Schlußfolgerung. Auch die demotivierende Wirkung staatlicher Arbeitslosenunterstützung wurde beschworen.

Folie für andere DiskutantInnen war eine klassisch wohlfahrtsstaatliche Orientierung. Der Bezug auf Marx war in den meisten der Beiträge eher vermittelt. Verweise auf Marx gab es hinsichtlich der Begründung von Ungleichheit bei der Verteilung in der ersten Etappe des Sozialismus. In dem einführenden Beitrag des Veranstalters wurde auch kurz das Problem der Entfremdung und der Bedeutung der Eigentumsverhältnisse angesprochen. Der Staat müsse entsprechend intervenieren. An dieser Stelle wurde die Diskussion unscharf. Worin die Beziehung zwischen Verteilung, Gerechtigkeit, Eigentum und Entfremdung besteht, wurde praktisch nicht diskutiert. Der Bezug auf die westeuropäischen Sozialstaatsmodelle blieb abstrakt, die Frage, wie diese entstehen konnten, weitgehend unberücksichtigt. Deutschland wird als Vorbild gesehen. Der Sachverhalt, dass sich der deutsche Sozialstaat nur im Kontext harter sozialer Kämpfe entwickeln konnte, mit weitgehenden staatlichen Interventionen in das Wirtschaftsleben verbunden war, weite Sektoren der Wirtschaft auch aus der unmittelbaren Wirkung von Marktbeziehungen ausgenommen waren, spielte in diesem Bild keine Rolle. Es waren die Stärke der Gewerkschaften und die historische Ausnahmesituation nach dem Weltkrieg, die die Spielräume des deutschen Kapitals einengten und diese Art von Sozialstaatlichkeit ermöglichten. Auch die Schattenseiten dieser Entwicklung, die repressiven Momente wurden übergangen.

Hier sind deutliche Parallelen zu entsprechenden Debatten in Russland zu beobachten. Das ist auch nachvollziehbar, besteht doch in diesen Ländern eine Arbeiterklasse, wie sich einst in Westeuropa entwickelt hatte, eben nicht. Ergebnis ist eine Gesellschaft, die sich von dem ja auch sehr differenzierten westeuropäischen Gesellschaftsmodell unterscheiden muss. Wenn man in diesem Zusammenhang über die Rolle marxscher Erkenntnisse diskutieren will, so muss man sich vor allem über dessen methodischen Ansatz klar werden. Andernfalls bleiben Bezugnahmen auf die Aussagen in der Kritik des Gothaer Programms – hier knüpften die meisten Beiträge an – inhaltsleer. Es geht letztlich darum, wie Marx die Verteilungsverhältnisse im Kontext der Widersprüche der Reproduktion in ihrer Gesamtheit, einschließlich der Widersprüche zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Gesellschaft und Natur und der den Geschlechterverhältnissen innewohnenden Widersprüche versteht. Letztlich betont Marx auch das Verhältnis zwischen der Verteilungsweise und der Menge dessen, was überhaupt zu verteilen ist, womit auch und nicht zuletzt das Niveau der Entwicklung der Produktivkräfte angesprochen ist.

Im Verlaufe der Diskussion wurde aber auch noch eine Frage aufgeworfen, die bezüglich der Verteilungsgerechtigkeit und des Weges zu ihr von nicht unwesentlicher Bedeutung ist: sollen Lohnabhängige überhaupt Lohnerhöhungen fordern – oder ist das sinnlos, weil damit nur die Inflation befeuert werde? Diese Kontroverse zwischen Marxisten und Keynesianern hat natürlich eine weitreichende politische Dimension, weil sie die Frage nach dem Subjekt der Gesellschaftsveränderung betont – Staat und Partei oder die Menschen selber?

Die Fixierung auf den Staat führte in den Diskussionen zu einer gewissen Hilflosigkeit. Man schaut auf das Ergebnis der sozialen Auseinandersetzungen in Westeuropa, das als Resultat staatlichen Handelns erscheint, als gegebene Gesetzlichkeit. Damit verschwindet aber auch der Fakt des Abbaus des Systems in den vergangenen 20 Jahren. Die deutschen TeilnehmerInnen verwiesen auf diese Widersprüchlichkeiten. Während also das Verteilungsprinzip diskutierbar ist, ist dessen Grundlage in den sozialen Auseinandersetzungen aus vietnamesischer Sicht vor dem Hintergrund unterschiedlicher geschichtlicher Erfahrung schwer nachzuvollziehen. Fragen der Selbstorganisation der Arbeiter, der Entwicklung von Klassensolidarität als eine unerlässliche Voraussetzung für die Eindämmung bzw. Gestaltung, schrittweise Überwindung von Ungleichheit, so faßte Marx die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft, als das emanzipatorische Moment dieses Übergangs und die Spezifik der Gerechtigkeit in dieser Phase, die einerseits bürgerliches Recht der Ungleichheit als auch deren bewußte Überwindung einschließt, stellen sich hier auf ganz andere Weise.

Die Konferenz setzte an einem Punkt an, an dem Marx endete. Nach der Veröffentlichung des ersten Bandes des „Kapital“ widmete er sich (wie übrigens ja auch Engels schon vor ihm) intensiv der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Formen, die dem Kapitalismus vorausgehen und in ihm auch immer nicht präsent waren. Es ging also darum, nach der Ergründung des Wesens des Kapitalismus die Formen, die Differenzierungen des Übergangs aus vorkapitalistischen Gesellschaften und die sich aus diesen Differenzierungen ergebenden Konsequenzen zu beleuchten. Der Brief an Vera Sassulitsch, mehr noch die Vorarbeiten dazu, die bereits vorher erarbeiteten Bemerkungen für die Otecestvennye zapiski, die Notizen zu Russland und vor allem auch die intensiven Diskussionen mit Kowalewski deuten darauf hin, dass es Marx an dieser Stelle um sehr grundsätzliche Fragen ging. Es sollte berücksichtigt werden, dass er sich auf diese Gebiete begibt und eben nicht in gleicher Intensität die Arbeiten an den ausstehenden Bänden fortsetzt. Diese Schwerpunktsetzung des alten Marx legt nahe, dass die Frage des Werdens der kapitalistisch-bürgerlichen Ordnung in ihrer inneren Dynamik und Widersprüchlichkeit ihn sehr bewegt haben muss. Praktisch bedeutet da ja dann auch, dass die Bedeutung von auf vorkapitalistische Wurzeln zurückgehende gesellschaftliche Formen, Traditionen etc. vor einer neuen Bewertung gestanden haben könnten. Die bei Marx zu findende Bemerkung, dass das Kapital sich alle anderen Bereiche letztendlich unterordnet erhält damit eine dialektische Ausdeutung, betont die Widersprüchlichkeit dieses Prozesses und die Vielfalt der dabei zu berücksichtigenden gegenläufigen Tendenzen. Die Entwicklungen in Sowjetrussland und in den anderen realsozialistischen Ländern ab 1921 bestätigten auf jeden Fall diese komplexere Sicht.

Das war und, so zeigte auch die Diskussion in Vietnam, ist ein entscheidendes Moment sowohl hinsichtlich der Weiterentwicklung des marxschen theoretischen Ansatzes, also auch hinsichtlich der politischen Strategien, die sich darauf beziehen.

One Response to “Vietnam diskutiert über Marx”

  1. […] zur Rolle der sozialen Gerechtigkeit im Werk von Karls Marx statt. Sie stand unter dem Titel „Karl Marx‘ Ideen zur Verteilungsgerechtigkeit und ihre Relevanz für die Gegenwart“ und wurde von der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt. Für die […]

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