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Zum Marx-Geburtstag 2017

[1]Vor mehr als einem Jahr hatten wir einen Call for papers [2]anlässlich des großen Geburtstages von Marx veröffentlicht. Das Echo war erfreulich und wir arbeiten intensiv an unserem Buch, das vor dem 5. Mai 2018 “auf den Markt” kommen soll. Aber diese Erinnerung bzw. Information rechtfertigt keinen mehring1-Post. Dieser hier hat mit einem gewissen Stutzen darüber zu tun, dass in den zahlreichen Artikeln bzw. Schriften zum Marxschen “Kapital” meist drei Momente ausgeblendet werden: Erstens, dass Marx mit seinen politökonomischen Darlegungen erklärt, wie und mit welchen Konsequenzen für das Individuum und die Gesellschaft Vergesellschaftung bei Dominanz des Kapitalverhältnisses erfolgt; zweitens, dass er seine angeblich mechanistische Voraussage zu sozialistischen bzw. kommunistischen Revolutionen und Gesellschaften lediglich als e i n e wissenschaftlich begründete Möglichkeit gesellschaftlicher Entwicklung behandelt; drittens, dass solche Engführungen Marxscher Interpretation wie marginalierte Geschlechterverhältnisse, Ökologie und eurozentristisches Herangehen durch das Original nicht zu stützen sind.

Offenbar ist der von Luxemburg ausgemachte „Ansporn zum Denken, zur Kritik und zur Selbstkritik“ als „das ureigenste Element der Lehre …, die Marx hinterlassen hat“ (Luxemburg 1918: 301) noch immer nicht zum Allgemeingut der Linken geworden. In der bereits seit 150 Jahren zugänglichen, wenngleich unvollendet gebliebenen Analyse finden sich zahlreiche Hinweise für die Auseinandersetzung mit solchen Engführungen und Ausblendungen einerseits und dem gegenwärtigen individuellen und gesellschaftlichen Alltag andererseits. So heißt es z. B. im ersten Band: „Sobald … die Arbeiter … entdecken, dass der Intensitätsgrad der Konkurrenz unter ihnen selbst ganz und gar von dem Druck der relativen Übervölkerung abhängt; sobald sie daher … eine planmäßige Zusammenwirkung zwischen den Beschäftigten und Unbeschäftigten zu organisieren suchen, um die ruinierenden Folgen jenes Naturgesetzes der kapitalistischen Produktion auf ihre Klasse zu brechen oder zu schwächen, zetert das Kapital und sein Sykophant, der politische Ökonom, über Verletzung des ‘ewigen’ und sozusagen ‘heiligen’ Gesetzes der Nachfrage und Zufuhr.“ (Marx 1890: 669-670) Diese Passage liefert auch den Schlüssel zum Umgang mit einem Widerspruch, der in diesem Band diskutiert wird. Dort klingt es scheinbar pessimistisch: „Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt. Die Organisation des ausgebildeten kapitalistischen Produktionsprozesses bricht jeden Widerstand, die beständige Erzeugung einer relativen Übervölkerung hält das Gesetz der Zufuhr von und Nachfrage nach Arbeit und daher den Arbeitslohn in einem den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter … Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den ‘Naturgesetzen der Produktion’ überlassen bleiben, d.h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital.“ (Marx 1890: 765-766) Dieser von der Geschichte bestätigten Tendenz steht die optimistisch anmutende Aussage gegenüber: „Sobald … die alte Gesellschaft hinreichend zersetzt …, sobald die Arbeiter in Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital verwandelt sind, sobald die kapitalistische Produktionsweise auf eignen Füßen steht, gewinnt die weitere Vergesellschaftung der Arbeit und weitere Verwandlung der Erde und andrer Produktionsmittel in gesellschaftlich ausgebeutete, also gemeinschaftliche Produktionsmittel, daher die weitere Expropriation der Privateigentümer, eine neue Form. Was jetzt zu expropriieren, ist nicht länger der selbstwirtschaftende Arbeiter, sondern der viele Arbeiter exploitierende Kapitalist … Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. … Die Expropriateurs werden expropriiert.“ (Marx 1890: 790-791) Der Widerspruch, von dem „die Marxisten“ meist nur den zweiten Aspekt immer wieder zitierten, ist mit der Logik des „Kapitals“ selbst auflösbar: Die kapitalistische Produktionsweise schafft mit der Vergesellschaftung der Arbeit die Möglichkeit einer neuen Vergesellschaftungsweise, in der die heute Ausgebeuteten und gegeneinander Konkurrierenden selbstbestimmt und solidarisch miteinander leben und arbeiten. Allerdings schafft und reproduziert sie gleichzeitig die Kapital- und Konkurrenzverhältnisse. Es kommt also darauf an, „eine planmäßige Zusammenwirkung“ ihrer Opfer, ihrer Gegnerinnen und Gegner zu organisieren und gemeinsam die in der Gesellschaft bestehenden Hierarchien, Gegenkräfte und Gegentendenzen zu einer solidarischen Vergesellschaftungsweise radikal zu kritisieren. Dafür wären insbesondere die in der Identitätsdebatte ausgemachten gesellschaftlichen Diskriminierungen so zu thematisieren, dass sie in der eigenen Organisationsarbeit ausgeschlossen werden. Die entschiedene Absage an den „gewöhnlichen Gang der Dinge“ aber wäre zu konkretisieren – zum einen in Widerstand und Protest, zum anderen in dem Eintreten für realisierbare Vergesellschaftungsprozesse wider Kapitaldominanz: für den Erhalt, die Demokratisierung und den Ausbau des Öffentlichen, für die Organisation von konkreten Projekten wie alternative soziale und ökologische Lokal- und Regionalentwicklung, für demokratische, soziale und ökologische Mindeststandards. Zum Dritten wären die bereits Aktiven solidarisch miteinander zu vernetzen, um gemeinsame gesellschaftliche, trans- und internationale Aktionen, Projekte und Entwicklungen auf den Weg zu bringen.

Luxemburg, Rosa (1918): Der zweite und der dritte Band [des „Kapitals], in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, Dietz Verlag Berlin 1974, 291-301.

Marx, Karl (1890): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Buch 1, Der Produktionsprozess des Kapitals, Herausgegeben von Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Dietz-Verlag, Berlin 1962.

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