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Im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Liebknecht/Luxemburg-Ehrung ist es wieder zu Auseinandersetzungen über Traditionen der linken Bewegungen und ihre Bedeutung für das Heute gekommen. Differenzierte Wertungen und Diskussionen von Verdiensten, Grenzen und Versagen führender Köpfe der verschiedenen linken Bewegungen sind wieder schwieriger geworden. Anlass für uns, auf eine Neuerscheinung aufmerksam zu machen, deren Autorin Angelica Balabanoff es unternimmt, aus der Sicht einer Beteiligten ein differenziertes Bild Lenins zu zeichnen. Es ist ein kritisches und hartes Bild – aber es wird Lenin eher gerecht und ist eher im leninschen Geist, als jede Würdigung, die seine Grenzen und sein Versagen wegreden oder gar beschönigen will.

Der Herausgeber Jörn Schütrumpf schreibt über die Autorin des gerade im Karl Dietz Verlag erschienenen Buches:

Angelica Balabanoff (1869–1965), die Organisatorin der Zimmerwalder Bewegung (1915–1919) – in der ein Häuflein internationalistisch gesinnter Sozialisten sich dem Irrsinn des Ersten Weltkrieges zu widersetzen suchte – hatte Lenin das erste Mal auf einer der vielen, nicht selten spärlich besuchten Versammlungen während dessen Schweizer Exils sprechen hören. Lenins polarisierende Art – nicht, wie unter Sozialdemokraten gang und gäbe, politische Positionen und Handlungen von Mitstreitern zu kritisieren, sondern an ihrer Statt Mitstreiter, soweit sie ihm zuwiderlaufende Meinungen vertraten, stets und überall, nicht selten auf die unangenehmste Weise, als Verräter zu denunzieren – stieß sie ab.

Doch angesichts der sich im sozialdemokratisch-sozialistischen Lager ausbreitenden Kompromissbereitschaft gegenüber den auf Krieg zusteuernden bürgerlichen Gesellschaften Europas begann dieser Russe, Angelica Balabanoff zu verunsichern und für sie zu einem Rätsel zu werden. Denn dieser Mann lag, trotz vieler Irrtümer und deprimierendster Niederlagen, in seinen politischen Einschätzungen nicht selten richtiger als die meisten anderen Revolutionäre. Nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki im Oktober 1917 schien es Angelica Balabanoff sogar, als würde sein Erfolg ihm recht geben.

Solange Angelica Balabanoff diese Revolution bedroht sah, stellte sie ihre Zweifel gegenüber den Bolschewiki zurück. Ihren Abschiedsbesuch bei Lenin stattete sie ab, als sie gewahr geworden war – wohl mehr erfühlt als begriffen –, dass von der ursprünglichen Absicht der Bolschewiki, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, nur noch die Machterhaltung um jeden Preis geblieben war, aus dem Mittel der Zweck zu werden drohte. Nicht um ihre Haut zu retten – auch wenn zweifellos Angelica Balabanoff, was sie damals jedoch nicht einmal hätte ahnen können, eine ideale Kandidatin für die Stalinschen Schauprozesse der dreißiger Jahre gewesen wäre –, sondern: um ihrer Selbstachtung willen.

Was Angelica Balabanoff den Bolschewiki nicht vorwarf, war das Misslingen des Sozialismus. Dass die Revolution im, verglichen mit Westeuropa, unterentwickelten Russland im ersten Anlauf lediglich bürgerlich-kapitalistische Verhältnisse hatte entbinden können, war ihr nicht nur theoretisch bewusst; dass bestenfalls eine internationale Revolution, unter Einbindung Russlands, Verhältnisse hätte freisetzen können, unter denen neben die politischen Freiheiten für jede und jeden die »Gleichheit des Genusses auf dieser Erde« zu treten vermochte, auch; dass das Ausbleiben der internationalen Revolution am wenigsten den Bolschewiki vorzuwerfen war – ebenfalls.

Wenn sie trotzdem immer wieder auf Schwächen und Verfehlungen zu sprechen kam, meinte sie, die Bolschewiki hätten nicht erst mit ihrem stalinistischen Terrorregime die Idee des Sozialismus nachhaltig beschädigt und damit international den Kampf um den Sozialismus erschwert, später gänzlich diskreditiert.

Lenins Verdienste um die Revolution zeugten für Angelica Balabanoff zugleich seine Schuld: Mit dem Übergang zum Jakobinismus ohne Volk hatte er – zweifellos unfreiwillig, aber nicht völlig ohne das Bewusstsein dessen, was er tat – die Grundlagen für ein Fortschreiten hin zu einer totalitären Diktatur über die Völker Sowjetrusslands gelegt. Was Lenin noch Mittel gewesen war, wurde unter Stalins Händen zu einem Sozialismus ausschließenden Zweck – und Lenin zu einem für alles verwendbaren Popanz, angefangen bei einem Leninismus.

Angelica Balabanoff: Lenin, oder Der Zweck heiligt die Mittel, hrsg. von Jörn Schütrumpf, Karl Dietz Verlag Berlin 2013, 192 Seiten, 22 Euro / zu bestellen im online-Shop des Verlages

Hier ein Auszug aus dem Buch

Passend dazu: Wladislaw Hedeler (Hrsg.): Jossif Stalin oder: Revolution als Verbrechen (mit zahlreichen Dokumenten) zum online-Shop des Verlages

One Response to “Gerade erschienen: Lenin, oder Der Zweck heiligt die Mittel”

  1. Auch aktuell und interessant:

    “Liest man die Schrift [Lenins Staat und Revolution; ME] so, dann entwickelt man rasch ein findiges Misstrauen gegen binnenkapitalistische Krisenlenkungsoperationen wie die jüngsten Bankenrettungsinitiativen und beginnt, sich vorzustellen, wie diese Operationen sich verschärfen ließen, um zu einer anderen Eigentumsordnung zu gelangen, die gleichwohl noch nicht aufgehört hätte, eine K1assengesellschaft zu sein. und ein Staat bliebe, in dem dann Wirtschaftslenkungsprobleme auftreten, deren Abgleich mit Zielvorgaben wie fairem und gleichberechtigtem Zugang zur arbeitsteiligen und vergesellschafteten Produktion, Krisenvermeidung und Bedürfnisbefriedigung auf die modernsten Koordinationsmittel nicht verzichten müsste. Das Wort »Koordinationsmittel« ist nicht technizistisch gemeint; es will mehr bezeichnen als einfach “das Internet”. Dass das ganze Kreditwesen samt hypertrophierter und sozial verselbständigter Finanzbranche eine Koordinationssphäre für die Erzeugung und Befriedigung von Tauschwertbedürfnissen ist, erkennt man leichter, wenn man sich klarmacht, dass diese Tauschwerte im Kapitalismus allesamt dem einen Gebrauchswert des Kapitals unterworfen sind, sich mit gesetzlicher, gerichtlicher und im Konfliktfall polizeilicher Hilfe Arbeit Nichtbesitzender anzueignen, sich selbst als wertverwertender Wert zu setzen. Unter diesem Gesichtspunkt enthüllt sich die Finanzbranche sozusagen als eine übereilte Variante der Planwirtschaft ohne Rechenschaftspflicht für die Planenden, wobei das Planziel irrational ist, eben die Verwertung des Werts mit Profitresultat um jeden Preis, notfalls ums Verrecken.”

    Dietmar Dath zu Wladimir Iljitsch Lenin Staat und Revolution, 
Hamburg (Laika) 2012

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