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Die Normalität Wulff

Es scheint das Schicksal deutscher Bundespräsidenten zu werden, als Katalysatoren grundlegender Tendenzen deutscher Staatlichkeit Sündenbockfunktion zu übernehmen. Köhler trat zurück, nachdem er offen ausgesprochen hatte, dass Außen- und Militärpolitik wirtschaftlichen Interessen zu folgen habe. Nun macht der gegenwärtige Präsident in dankenswerter Klarheit deutlich, wie eng und alltäglich die Verflechtungen von Wirtschaft und Politik sind. Der Anlass ist, wie es in Deutschland nicht anders sein kann, keinesfalls ein politischer. Keine Analyse der Entscheidungen des Politikers Wulff steht zur Diskussion. Es geht um Verfahrensfehler. Dabei braucht man gar nicht einen hausbauenden Bundespräsidenten, um die Interessenverflechtung von Kapital und Politik nachzuvollziehen. Die vermutete Beeinflussung eines Politikers durch Urlaubsreisen, billige Kredite und persönliche Freundschaft zu UnternehmerInnen sind unbedeutend angesichts der Verflechtungen, die in den realen Institutionen und in den realen Entscheidungsprozessen fest verankert sind. Diese Verankerung ist, so zeigt die relative Gleichgültigkeit gegenüber dem Gezänk um den Bundespräsidenten, bekannt. Amazon liefert uns unter dem Stichwort Lobbyismus 251 Buchempfehlungen, Google etwa 754.000 Treffer. Die Medien berichten zudem recht ausführlich über diese Verflechtungen. Zum Jahresende ist es üblich, darüber zu spekulieren wer „oben“ ist, wer im kommenden Jahr die Entscheidungen in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft beeinflussen wird. Im MorningBriefing des Handelsblattes von heute  heißt es z.B.:
„Der Berliner Ex-Staatssekretär Jörg Asmussen bekommt im Direktorium der EZB das Ressort Internationales zugewiesen. Das muss für Deutschland kein Schaden sein. Der Mann ist international so vernetzt wie kein zweiter in Berlin. Sein Handyspeicher ist ein Who-Is-Who der internationalen Politik. Auf seiner Mailbox verewigen sich die Großen dieser Welt, vom deutschen Bundespräsidenten aufwärts.“
Der Mann ist einfach nur ein simpler Beamter. Sein Mandat stützt sich auf die inneren Mechanismen der Exekutive , nicht auf einen öffentlichen Auftrag. Er kann ohne diesen öffentlichen Auftrag aber Macht gegenüber Staaten und Gesellschaften ausüben – er hat ja einen gefüllten Handyspeicher.
Die interessante Frage ist vor diesem Hintergrund, wie sich die bundesdeutsche Staatlichkeit unter diesem Gesichtspunkt entwickelt hat. Diese Frage wird aber unter einem Wust von Belanglosigkeiten begraben. Oder meint in diesem Lande ernsthaft jemand, dass Anrufe eines Bundespräsidenten die Freiheit einer BILD-Zeitung einschränken würde?
Demokratie und Freiheit werden auf ganz andere Weise und viel wirkungsvoller eingeschränkt. Man kann dies nachlesen – etwa in den letzten sechs Ausgaben der Wirtschaftswoche, in der sie „Treffpunkte der Macht“ vorstellte. Oder in der Ausgabe 49 der gleichen Zeitschrift, in der in einer Analyse der Arbeit von Aufsichtsräten auch nebenbei gezeigt wird, welche Konzentration von Macht und Einfluss bei wenigen Personen hier anzutreffen ist.
Ex-BDI-Chef Olaf Henkel spricht für die EU aus, was auch grundsätzlich in Deutschland selbst – und in umfassenderen Sinne, als er meint – stimmt: „Die zunehmend undemokratische Krisenbewältigung, das ständige Hineinreden deutscher Politiker in die Angelegenheiten anderer Länder, die Einschränkung des Budgetrechts der Länderparlamente durch demokratisch nicht legitimierte zentralistische Aufsichtsorgane führen zu einer gefährlichen Aushöhlung der Demokratie…“ In Deutschland selbst war es nicht erst Soffin, die diese Tendenz repräsentiert. Die Hartz- und Rürupp-Kommissionen etwa haben schon vor der Krise den Trend zu einer neuen Oligarchisierung deutlich gemacht.
Der mögliche Rücktritt eines Bundespräsidenten ändert daran nichts.

One Response to “Die Normalität Wulff”

  1. Judith Dellheim sagt:

    … so wäre u. a. zu analysieren, wer sich wie mit den “Wulff- bzw. Wulff-ähnlichen” Praktiken auseinandersetzt – z. B. blog.transparency.org
    Schließlich muss dies nicht zwingend emanzipativ sein und Demokratisierung befördern. An “Transparenz” haben sehr verschiedene Akteure sehr unterschiedliche Interessen …

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