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2011 begann europapolitisch wie 2010 geendet hat: Die Europäische Kommission kämpft um die Stabilität der EU und die Steigerung ihres Wirtschaftswachstums. Die Bundesregierung kämpft gegen einen höheren deutschen Beitrag dafür, aber ebenfalls um Wirtschaftswachstum. Die Rechten schüren Nationalismus, selbst wenn sie die EU Präsidentschaft innehaben. Das Grünenspektrum gibt sich europäisch und marginalisiert die globalen Probleme. Die Linken sind nur kaum vernehmbar.

Bezeichnend dafür in der letzten Woche: ein schockierender ungarischer Teppich mit revanchistischen Grenzkonturen, die Veröffentlichung des „Jahreswachstumsberichtes“ der Europäischen Kommission (ec.europa.eu/economy_finance/articles/eu_economic_situation/pdf/2011/com2011_11_de.pdf ),  der Kommentar des Bundeswirtschaftsministers Brüderle und das Gutachten seines Wissenschaftlichen Beirats „Überschuldung und Staatsinsolvenz in der Europäischen Union“ (www.bmwi.de/BMWi/Navigation/Service/publikationen,did=376066.html), die Reden von Joschka Fischer und Jean Marc Ferrier zu den „Vereinigten Staaten Europas“ (www.greenmediabox.eu/archive/2011/01/12/spinelli_debate/), die davon abstrahierenden internen Debatten der Linken …

Mit dem 1.1.2011 begann das sogenannte „europäische Semester“. „Bei Anleitung des Europäischen Rates sollen die Mitgliedstaaten bis Mitte April im Rahmen ihrer Stabilitäts- und Konvergenzprogramme ihre mittelfristige Haushaltsstrategie verbindlich darlegen und in ihren nationalen Reformprogrammen die Maßnahmen erläutern, die nötig sind, um dem … auf der Strategie 2020 beruhenden Gesamtkonzept zur Krisenbewältigung Rechnung zu tragen. Ausgehend von den Empfehlungen der Kommission wird der Rat bis zum Sommer länderspezifische Leitlinien vorlegen, die die Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung ihres Haushalts für 2012 und der Umsetzung ihrer Wachstumspolitiken berücksichtigen müssen. Wie es das integrierte Konzept zur Abstimmung der Maßnahmen verlangt, wird der Rat die Haushalts- und die Wachstumsstrategien sowie deren Ziele, Schlüssigkeit und Auswirkungen auf die gesamte EU einschließlich der Wechselwirkungen im Euro-Währungsgebiet parallel begutachten.“ Das „Gesamtkonzept“ beinhaltet zehn Maßnahmen: 1. konsequente Haushaltskonsolidierung, 2. Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, 3. Stabilisierung des Finanzsektors, 4. Arbeit attraktiver machen, 5. Rentenreformen, 6. Arbeitsmarktreformen, 7. Beschäftigungssicherheit und Flexibilität ausbalancieren, 8. Ausschöpfung des Binnenmarktpotenzials, um Wirtschaftswachstum zu fördern, 9. Heranziehung von privatem Kapital für die Wachstumsfinanzierung, 10. kostengünstige Energieversorgung.

Das gefällt auch dem Bundeswirtschaftsminister Brüderle, aber nicht, dass dabei in der EU mehr Gemeinsamkeit zum Tragen kommen soll, denn die Kommission will die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) aufstocken und ihr Einsatzgebiet erweitern. Sie will mehr EU-Vorgehen gegen Staatsschuldenkrisen, mehr Governance und Wirtschaftsaufsicht, mehr kritische Prüfung bisheriger Praktiken und eingesetzter Instrumente.

Linke Kritik sollte vor allem an der Auseinandersetzung mit den politischen Prioritäten beginnen und davon ausgehend zeigen, dass das Gesamtkonzept soziale und ökologische Zerstörung forciert und selbst ökonomisch nicht nachhaltig ist. Dieses Prinzip wäre auch bei der Auseinandersetzung mit dem „Gutachten“ und Brüderle der Ausgangspunkt. Sie erklären: „Stabile öffentliche Finanzen sind für die Zukunft eines gemeinsamen Europas von größter Bedeutung. Eine Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist daher unerlässlich.“

Von links aus wäre zu sagen: In den Mitgliedsländern und in der Europäischen Union müssen sozial gerecht höhere Steueraufkommen mobilisiert werden, um zukunftsfähige Reformen einleiten und sichern zu können. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt muss schrittweise einem „Nachhaltigkeitspakt“ weichen. „Weichen“ bedeutet nicht, reformiert bzw. ergänzt werden.

Die Gutachter wollen mittels Einführung einer Insolvenzordnung klar stellen, dass künftig kein EU-Mitgliedsland mehr darauf setzen könne, durch die anderen vor Insolvenz bewahrt zu werden. Schließlich hören Zweckfreundschaften beim Geld auf und es geht ja nur um Wachstum und das Wohl „der Wirtschaft“, nicht um eine EU, die soziale, ökologische und globale Probleme gerecht lösen hilft. Es ist dann nur folgerichtig, dass der Rettungsschirm nicht über 2013 hinaus bestehen bleiben und der ständige Krisenmechanismus nicht zum Fonds zur Rettung insolventer Staaten werden soll. Die „Transformation der Währungsunion zu einer Währungs-cum-Transferunion“ müsse unbedingt vermieden werden. Hingegen wären nationale Schuldenbremsen nach deutschem Beispiel einzuführen. „Die Bundesregierung sollte nicht zögern, jetzt … auf dem Feld der staatlichen Finanzpolitik mit großer Festigkeit für durchgreifende ordnungspolitische Reformen in der EU einzutreten, damit es zu dauerhafter Finanzstabilität in der Eurozone und darüber hinaus kommt.“

Von links aus wäre zu kommentieren, dass drei finanzpolitische Fragen kurzfristig beantwortet werden müssen und können:

1)     Wie können Staaten zu günstigen Zinsraten notwendige Kredite aufnehmen? – Indem die EZB Kredite ausreicht, Eurobonds geschaffen und private Banken zu Zwanganleihen verpflichtet werden

2)     Wie können öffentliche Handlungsspielräume erweitert werden? – Indem Zinsen auf öffentliche Schuld abgesenkt bzw. gestrichen werden und der private Finanzsektor für die erhaltenen öffentlichen Rettungsmaßnahmen aufkommt

3)     Wie können die öffentlichen Haushalte stabilisiert und gestärkt werden? – Indem Steuerreformen realisiert, öffentliche Ausgaben umgeschichtet werden. Steuern müssen direkt proportional zur Höhe der Einkommen und Vermögen erhoben werden, den Verbrauch nichterneuerbarer Ressourcen und die Verschmutzung der Natur finanziell diskriminieren.

Den Linken in Deutschland muss klar sein, dass künftig in wesentlich höherem Ausmaße „deutsche Steuergelder“ in den EU-Haushalt und in die Entwicklungshilfe fließen müssen. Sie sollten das auch gemeinsam mit ihren FreundInnen in den anderen EU-Ländern der Öffentlichkeit sagen. Dass sie dabei auf nicht geringe Zustimmung setzen können, „verraten“ Umfrageergebnisse. Und: es ist eine bewährte Erfahrung, dass Menschen Belastungen akzeptieren, wenn dies die Armen schützt, sozial gerecht erfolgt und sie sich an den politischen Entscheidungen beteiligen können.

EU-Umfragen belegen eindeutig: Die Europäer/innen wollen mehrheitlich, dass Armut vor Ort, in ihren Ländern, in der EU und weltweit prioritär bekämpft wird. Mehrheitlich wollen sie Konsequenz beim Vorgehen gegen Klimawandel und glauben nicht, dass Militarisierung und Militäreinsätze „globale Bedrohungen“ reduzieren, ihre Sicherheit erhöhen.

Diese Tatsache interessierte auch auf der Spinelli-Konferenz nicht oder bestenfalls nur kaum. Hier forderte der Philosoph Ferry, endlich die Diskussion zur Finalität europäischer Integration zu führen. Er stützt sich auf eine jahrhundertelange demokratische Tradition, die eine europäische Förderation anstrebt. Emile Zola war einer ihrer Begründer.

Joschka Fischer fürchtet schwindende globale Bedeutung der EU, was deren Selbstbestimmung einschränke. Er will ein “starkes Europa”, eine “Wirtschaftsunion” und führte in Grundzügen aus, wie diese mit Wirtschaftsregierung, wirklichen „Europäischen Parteien“ und „echtem Europäischen Parlament“ bzw. Parlamentarismus aussehen und funktionieren könnte. Das Ziel “nachhaltiges Europa”  wurde erst von Cohn-Bendikt eingefügt.

Fischers Rede war weitgehend schlüssig und auf eine “europäische Identität” der EU-Bürger/innen gerichtet, nicht aber auf den solidarischen globalen Akteur Europäische Union, der auf ein attraktives Leben für jede und jeden orientiert. Eine derartige Orientierung fordert selbstverständlich dazu heraus, jetzt für wirtschaftliche Stabilisierung zu wirken. Aber die Frage steht: Wofür bzw. im Kontext mit welchen politischen Zielen und daher auf wessen Kosten? Wie soll gegen Armut und soziale Ausgrenzung, gegen globale Erwärmung und Schwund der Biodiversität vorgegangen werden?

Wann schaffen die Linken endlich ihre Öffentlichkeit, um diese Fragen und die praktisch-politischen Konsequenzen zu diskutieren und zu organisieren?

One Response to “Wachstumsbericht, BWiM-Gutachten, Spinelli-Konferenz”

  1. […] bzw. Richtlinie vorbereiten. (Die Bonds meinen die gemeinsame Ausgabe von Schuldtiteln im Euroraum. mehring1 hat darüber bereits mehrfach diskutiert.) Die Kommission schlägt drei Optionen zur Einführung […]

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