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Vorfassung eines Beitrags im neuen AK, www.akweb.de:

Der Vorgang ist so abgedroschen, dass er fast langweilig ist: neoliberale Politiker und Rechtspopulisten verschiedener Parteien beschimpfen die Erwerbslosen als faul und träumen von Arbeitszwang. Die Finanzen des Staates schwinden: Die Abgaben- und Steuerquote liegt laut OECD mit knapp 36 Prozent (2008) deutlich unterhalb des europäischen Durchschnitts. Die Einnahmen kommen zu zwei Dritteln aus Lohn-, Mehrwert- und Verbrauchssteuern (Energie, Tabak), die Beteiligung aus Vermögen, Unternehmen und Aktiengewinnen ist nach Zahlen des statistischen Bundesamtes von ca. 33 (1975) auf knapp 20 Prozent (2008) gesunken – selbst in den USA ist die Belastung des Kapitals höher. Darüber hinaus sind aus dem überwiegend von Lohnabhängigen finanzierten Staatshaushalt gerade die Absurditäten des Finanzkapitalismus gegenfinanziert worden. Gleichzeitig wurde die in der Krise gelockerte Schuldenbremse eilig ins Grundgesetz geschrieben  – sekundiert von der übliche Volksverdummung durch die SPD, Staatsverschuldung sei etwas, das die ‚Sparbücher unserer Enkel belaste’. Jetzt müssen Ausgaben in Kommunen, ‚freiwilligen Staatsaufgaben’ und Kosten im Kerngeschäft gedrosselt werden.
In der Hochzeit der Krise schauten bürgerliche Politik und Feuilleton besorgt auf die steigenden Umfragewerte, die Zustimmung zu linken Positionen, Forderungen nach Sozialisierung und Umverteilung, sogar In-Frage-Stellung des Kapitalismus als System andeuteten. Dass diese sich weniger in Protesten niedergeschlagen haben, als befürchtet – oder gehofft – wurde, war auch Ergebnis einer geschickten Politik und Rhetorik der gemeinsamen Betroffenheit und der Einbindung der Gewerkschaften, vor allem der IG-Metall. Kaum jemand hat bei der Organisation der Zustimmung für die Bereitstellung von Milliarden für Finanz-, Export- und Automobilwirtschaft auf die Erwerbslosen geschimpft. Das schien ein bisschen riskant, wenn die Summen verglichen würden. Jetzt hofft man bereits auf die Vergesslichkeit, bzw. dass es gelungen sei, die Naturnotwendigkeit der Krisenpolitik im Bewusstsein zu verankern.
Westerwelle erinnert das Leben der Hartz4-Empfänger an „spätrömische Dekadenz“ (es scheint wohl doch nicht alles so lustig gewesen zu sein, wie die 50er-Jahre-Schinken aus Hollywood andeuteten). Vielleicht mit sehnsüchtigem Blick auf den rechten Populismus in den USA, sicher fest im Sattel neoliberalen Denkens, hört er in Debatten um das Sozialstaatsgebot den Sozialismus durch. Gegen die Empörung von links und Betroffenenverbänden sonnt er sich in der Behauptung einer großen Zustimmung zu seinen Äußerungen: 74 Prozent finden es nach der ARD-Trend-Umfrage gut, „dass Westerwelle eine Debatte um Hartz4 angestoßen hat“. Allerdings finden 77 Prozent seine Äußerungen „nicht neu und sehr allgemein“; 60 Prozenten finden, dass Westerwelle recht hat, „dass zu viel über die Hartz4-Empfänger geredet wird und zu wenig über die, die alles bezahlen müssen“, gleichzeitig sind 55 Prozent der Meinung, dass er versucht, „sich auf Kosten der Schwachen in der Gesellschaft zu profilieren“ (www.xtranews.de/2010/03/05/ard-deutschlandtrend-maerz-2010-westerwelle-verliert-an-zustimmung/).
Das ist ein recht gemischtes Bild. Dennoch: die Zustimmung von unten, wenn sie noch dazu von den durchsichtigsten Typen angerufen werden, sich von noch weiter unten zu distanzieren, ist immer wieder erklärungsbedürftig. Ein erster Hinweis ist allgemein: Zu den Grundlagen der Attributionsforschung (also einer Fragestellung der Psychologie, auf welche Ursachen Menschen beobachtetes oder eigenes Verhalten zurückführen) gehört die „Hypothese von der gerechten Welt“ (Lerner 1980). Es ist beruhigender, sich vorzustellen, dass man in einer Welt lebt, in der jedeR im großen und ganzen kriegt was sie / er verdient – die Welt scheint dann kein so bedrohlicher Ort zu sein. Deshalb werden Unglück und soziale Missstände von anderen unzutreffend individuellem Fehlverhalten oder einem schlechten Charakter des Opfers zugeschrieben.
In der neuen Folge (8) Deutsche Zustände von Heitmeyer u.a. zeigt sich, dass die Verbreitung eines allgemeinen Glaubens an die gerechte Welt nicht mehrheitlich verankert: über 90 Prozent stimmen nicht oder eher nicht zu, dass es „in der Welt eher gerecht zugehe“. Wer das allerdings denkt, neigt auch zur Zustimmung zu rassistischen, antisemitischen, frauenfeindlichen, gegen obdachlose, homosexuelle, langzeitarbeitslose und behinderte Menschen (S.98). Interessanterweise hat aber eine knappe Mehrheit der Menschen das Gefühl, dass es in ihrem eigenen Leben „eher gerecht“ zugehe. Und je stärker dieses Gefühl, desto geringer die „Neigung, feindseligen Aussagen gegenüber Frauen Fremden, Juden, dem Islam, homosexuellen und behinderten Menschen sowie Personen anderer ethnischer Herkunft zuzustimmen“ (ebd.).
Das Absenken der Standards von Arbeit und die Erhöhung von Arbeitsbelastungen im neoliberalen Kapitalismus haben die Gerechtigkeitsgefühle von vielen Lohnabhängigen verletzt: harte Arbeit tauscht sich nicht mehr gegen soziale Sicherheit, auch nicht, wenn man verzichtet, den Gürtel enger schnallt, mehr Arbeitsleid auf sich nimmt. Dass nach Ablauf vom ALG 1 kaum Bestandsschutz für Qualifikation, Vermögen, Lebensstandards garantiert wird, macht die fürs Selbstverständnis der Betroffenen so wichtige Distinktion gegenüber denen, die sich scheinbar nicht den gleichen Anstrengungen der Arbeit unterziehen, unsichtbar. Umso lauter kann sie verbal behauptet werden und Humus für rechtspopulistische Politiken bilden.
Die Ergebnisse von Heitmeyer u.a. aus dem Jahr 2009 zeigen (wie bereits andere zuvor), dass die Krisenfolgen nach gesellschaftlicher und individueller Betroffenheit gespalten wahrgenommen werden: über 90 Prozent gehen davon aus, dass Armut und soziale Abstiege in Folge der Wirtschaftskrise zunehmen werden (S.24), über 80 Prozent haben das Gefühl, dass Fehler in Politik und Wirtschaft, die Wirtschaftskrise allgemein „Leute wie ich ausbaden müssen“ (ebd.). Persönlich betroffen von der Finanzkrise sehen sich „nur“ 37, bedroht um die 46 Prozent. Die Einschätzung der persönlichen wirtschaftlichen Lage ist im Westen nicht verschlechtert, im Osten sogar leicht verbessert.
Das Bild bleibt widersprüchlich: ein Drittel der Befragten stimmen zu, dass in Krisenzeiten gleiche Rechte für Alle nicht mehr garantiert werden können; knapp 20 Prozent denken, dass sich keine Gesellschaft Menschen leisten könne, die wenig nützlich seien – das sind über 10 Prozent weniger als noch vor zwei Jahren. Über 50 Prozent denken, dass die Krise mit verursacht wurde von denen, die den Sozialstaat ausnützten, über 60 Prozent, dass in Deutschland zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden müssen. Zwar denken immer noch fast 60 Prozent der Befragten, dass es empörend sei, dass die Langzeitarbeitslosen sich ein bequemes Leben auf Kosten der Gesellschaft machten, aber die Zahl ist gegenüber dem Vorjahr deutlich gefallen. Die Zustimmung, dass „wir in unserer Gesellschaft zu viel Rücksicht auf Versager“ nehmen, ist von gut 40 auf 27 Prozent gefallen. Werte wie Solidarität, Gerechtigkeit und Fairness werden mehrheitlich zurückgewünscht, aber für unrealistisch gehalten. Von denjenigen, die sich von der Krise bedroht fühlen, sind immerhin über 40 Prozent bereit, sich an genehmigten Demonstrationen zu beteiligen, 13 Prozent an Protesten, bei denen Straßen oder Gebäude blockiert werden. Das lässt mehr Spielraum für linke Phantasien, als die Umfragen zu Westerwelle so vermuten lassen.

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